Erstmals seit Taliban-Machtübernahme Abschiebeflug nach Afghanistan gestartet
Vom Flughafen Leipzig/Halle ist ein Abschiebeflug nach Afghanistan gestartet. Das bestätigte Regierungssprecher Hebestreit. Angesichts des Anschlages von Solingen sieht Kanzler Scholz unterdessen Versäumnisse bei den Behörden in NRW.
Deutschland hat erstmals seit der Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban vor drei Jahren wieder Straftäter nach Afghanistan abgeschoben. Das bestätigten der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, und das sächsische Innenministerium. "Es handelte sich hierbei um afghanische Staatsangehörige, die sämtlich verurteilte Straftäter waren, die kein Bleiberecht in Deutschland hatten und gegen die Ausweisungsverfügungen vorlagen."
Zuvor hatte der Spiegel darüber berichtet. Demnach startete am Morgen ein Charterjet von Qatar Airways vom Flughafen Leipzig/Halle aus in Richtung Kabul. An Bord seien 28 Männer, die aus verschiedenen Bundesländern nach Leipzig gebracht worden seien.
Unter den Abgeschobenen sollen auch Gefährder sein, also Menschen, denen die Sicherheitsbehörden schwerste politisch motivierte Straftaten bis hin zum Anschlag zutrauen. Es ist denkbar, dass manche der abgeschobenen Straftäter zugleich als Gefährder gelten.
Bericht: Abschiebung seit zwei Monaten vorbereitet
Laut Spiegel erhielt jeder Abgeschobene vor dem Flug 1.000 Euro Handgeld. Ein Arzt sei mit an Bord. Die Abschiebung sei vom Kanzleramt und den Innenbehörden seit gut zwei Monaten vorbereitet worden.
Die Ausreisepflichtigen seien in der Nacht teils aus der Strafhaft nach Leipzig gebracht worden. Beteiligt gewesen seien Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Nach dem tödlichen Messerangriff von Mannheim Ende Mai hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt, die Abschiebung von Schwerstkriminellen und terroristischen Gefährdern nach Afghanistan und auch Syrien wieder zu ermöglichen.
Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan befürchtet
Insbesondere die Grünen, darunter auch Außenministerin Annalena Baerbock, hatten sich bislang skeptisch gezeigt bei Abschiebungen nach Afghanistan und davor gewarnt, die islamistische Taliban-Regierung indirekt anzuerkennen. Baerbock hatte aber im rbb auch gesagt, bereits jetzt seien Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan vereinzelt machbar. Es sei angesichts des dort herrschenden Regimes aber "offensichtlich nicht trivial". Es sei zudem bereits Rechtslage, dass Straftäter und Gefährder keinen Schutzstatus bekämen oder ihn dann verlören und weggesperrt gehörten.
Die Abschiebung von Straftätern nach Afghanistan ist umstritten, da in Afghanistan aufgrund der Herrschaft der Taliban Menschenrechtsverletzungen drohen. Innenminister der Länder dringen dagegen auf die Abschiebung von Schwerkriminellen und islamistischen Gefährdern auch nach Afghanistan und Syrien.
Bundesinnenministerin Faeser hatte in den tagesthemen angesichts von Rückführungen nach Afghanistan angekündigt, "man werde sehr bald abschieben". Offenbar hatte sie dabei auch den nun erfolgten Abschiebeflug im Blick. Die Bundesregierung habe immer gesagt, dass sie mit den Taliban nicht rede, aber mit Nachbarstaaten und dort um Unterstützung werbe. Da "sei man schon sehr weit", so die SPD-Politikerin.
Scholz sieht Versäumnisse bei Behörden in NRW
Die Bundesregierung hatte sich als Konsequenz aus dem Anschlag eines mutmaßlichen Islamisten bei einem Stadtfest in Solingen auf ein Maßnahmenpaket für die Migrations- und Asylpolitik verständigt. Es umfasst unter anderem eine Ausweitung von Messerverboten und zusätzliche Befugnisse für die Sicherheitsbehörden, insbesondere auch an Bahnhöfen. Die Bundespolizei, die für die Sicherheit an Bahnhöfen zuständig ist, soll zudem flächendeckend mit sogenannten Tasern ausgestattet werden.
Der mutmaßliche Täter von Solingen, ein 26-jähriger Syrer, hätte eigentlich schon im vergangenen Jahr in das EU-Land Bulgarien abgeschoben werden sollen, wo er zuerst EU-Boden betreten hatte. Er wurde aber von den Behörden nicht in seiner Unterkunft angetroffen; weitere Versuche wurden offenbar nicht unternommen.
Bundeskanzler Scholz sieht in diesem Zusammenhang Versäumnisse bei den Behörden in Nordrhein-Westfalen. Er forderte Ermittlungen zur Aufklärung, warum der mutmaßliche Täter nicht nach Bulgarien abgeschoben wurde. In einem Interview mit dem Spiegel sagte Scholz: "Das wüsste ich auch gerne." Dabei gehe es nicht um Schuldzuweisungen. Vielmehr müsse aufgeklärt werden, "was schiefgelaufen ist".
Auch sei nicht zu vermitteln, warum es offenbar nur einen Versuch gab, den Mann in seiner Unterkunft aufzusuchen, warum man nicht wiedergekommen sei und nicht beantragt habe, die Frist zur Rückführung zu verlängern. "Wir haben Regeln geschaffen, die seine Abschiebung erleichtert hätten. Personen, von denen wir glauben, sie könnten sich der Abschiebung entziehen, können wir in Abschiebegewahrsam nehmen", so Scholz. Er habe Verständnis, dass die Bürger das nicht mehr verstünden.
Faeser: "Auf solch einen Anschlag muss man reagieren"
Angesichts der Verständigung der Ampelkoalition auf das Maßnahmenpaket sagte der Kanzler am Rande eines Bürgerdialogs im brandenburgischen Seelow: "Es ist gut, dass es so schnell, so präzise geschehen ist, und ich bin froh, dass heute diese Maßnahmen vorgestellt werden konnten." Sie sollten nun schnell auf den Weg gebracht werden.
Bundesinnenministerin Faeser nannte das Paket in den tagesthemen eine "harte Reaktion" auf den Anschlag von Solingen. Dass dies so kurz nach der Tat passiert, bedeute für Faeser aber nicht, dass zuvor zu wenig unternommen wurde. "Selbstverständlich haben wir uns als Koalition früher schon um die Bekämpfung des Islamismus gekümmert", betonte die SPD-Politikerin und führte als Beispiele etwa das Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg oder das Betätigungsverbot für das Pro-Palästina-Netzwerk Samidoun an. "Wir waren da schon hart unterwegs und die Prävention haben wir selbstverständlich auch aufgebaut."
Trotzdem sei sie der Auffassung, "dass man auf einen solchen furchtbaren Anschlag immer reagieren muss." So seien Verschärfungen in den Bereichen Waffen- und Asylrecht konsequent.
Kritik der Union am Maßnahmenpaket
Die Bundesinnenministerin setzt dabei auf Einvernehmen mit der Union. Es sei wichtig, dass alle staatlichen Ebenen hier "stark zusammenstehen". Gesprächsangebote nehme sie gern an und ernst. Über weitere Maßnahmen werde man sehr offen reden. "Ich schließe manche Dinge nicht aus", sagte Faeser auf die Frage nach möglichen weiteren Maßnahmen.
Von der Union gab es hingegen Kritik am Paket der Ampelkoalition. "In dem vorgestellten Papier steht nichts Falsches, es sind aber leider nicht die notwendigen Maßnahmen", urteilte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann über die Ampel-Vorhaben. Mit Blick auf die Gespräche mit der Regierung betonte er in der Rheinischen Post: "Wenn die Bundesregierung an ernsten Gesprächen interessiert ist, müssen am Dienstag die Themen Zurückweisungen an der Grenze, Anwendung des Dublin-Prinzips und konsequente Abschiebungen auf den Tisch."
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) setzt auf einen Schulterschluss mit der SPD. "Das ist kein technisches Problem, sondern die Frage, schaffen wir es, einen Konsens zwischen den großen Parteien hinzukriegen, dass wir da mehr im Recht ändern", sagte Reul dem TV-Sender Phoenix.
FDP ruft zu konstruktiver Mitwirkung auf
Auch die FDP hofft auf eine Zusammenarbeit mit der Union. "Wichtig ist jetzt, dass die demokratischen Parteien auf allen staatlichen Ebenen eng miteinander kooperieren", sagte FDP-Fraktionschef Christian Dürr der Nachrichtenagentur dpa. Ohne die Länder gehe es nicht. "Ich appelliere daher an CDU und CSU, mit uns an einem Strang zu ziehen und konstruktiv an der schnellen Umsetzung des Sicherheitspakets mitzuarbeiten", sagte Dürr.
Die Grünen-Innenexpertin Lamya Kaddor, hob im Tagesspiegel hervor, das Papier zeige, "dass die Ampel in Fragen der inneren Sicherheit handlungsfähig bleibt, auch in Zeiten der massiven Bedrohung von innen und außen". Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann äußerte sich bei der Mediengruppe Bayern aber skeptisch zum Vorhaben, Leistungen für Asylbewerber zu streichen, für die ein anderer europäischer Staat zuständig wäre, der der Rücknahme zugestimmt hat.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) rechnet durch das neue Sicherheitspaket der Ampel mit einer Verbesserung der Gefahrenlage an den Bahnhöfen. "Die Möglichkeiten, stichpunktartig und anlasslos kontrollieren zu können, sind ein wichtiges Instrument", sagte der GdP-Vorsitzende für die Bundespolizei, Andreas Roßkopf, der Rheinischen Post. Insgesamt würden die geplanten Verschärfungen "die Kontrollen gerade an Bahnhöfen um ein Vielfaches erleichtern".
Bundestags-Innenausschuss berät über Attentat
Im Innenausschuss des Bundestages sollen heute die Bundesregierung und der zum Anschlag von Solingen ermittelnde Generalbundesanwalt berichten. Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz (CSU) sagte der dpa, Innenministerin Faeser dürfe keine Fragen offenlassen und müsse darlegen, welche Konsequenzen sie aus dem Anschlag ziehen wolle. Die Ursachen der schrecklichen Terrortat müssten restlos aufgeklärt werden.
Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sagte der dpa, viele der Hintergründe der entsetzlichen Tat lägen noch im Dunkeln. Sie müssten nun umfangreich und rasch aufgeklärt werden. Sicherheitspolitische Defizite müssten endlich politisch sehr entschlossen angegangen werden, mahnte von Notz, der auch Vorsitzender des Geheimdienst-Kontrollgremiums des Bundestags ist.
Steinmeier kommt zur Trauerfeier in Solingen
In Nordrhein-Westfalen unterrichtet Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) am Vormittag den Landtag in einer Sondersitzung über bisherige Erkenntnisse zum Attentat. Zu Beginn der Plenarsitzung wollen die Abgeordneten in einer Schweigeminute der Opfer des Anschlags gedenken.
Am Sonntag ist eine Trauerfeier in Solingen geplant, daran wird auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teilnehmen. Er will dort eine Rede halten und anschließend am Ort des Anschlags einen Kranz niederlegen und ebenfalls der Opfer gedenken.