Terroristischer Anschlag Wie ist der Stand bei den Solingen-Ermittlungen?
Knapp eine Woche nach dem Anschlag in Solingen laufen die Ermittlungen: Was ist bisher bekannt? Und welche neuen Informationen gibt es zum Tatverdächtigen und dessen gescheiterter Abschiebung?
Wie ist Issa al-H. nach Deutschland gekommen?
Nach Informationen von WDR und NDR ist der Tatverdächtige Issa al-H. Ende 2022 aus Syrien über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gekommen. Gegenüber Beamten erklärte er später, warum er in Deutschland Asyl beantragt.
Demnach hatte er in Syrien den Wehrdienst verweigert und fürchtete Rache. In Deutschland wolle er einen Job finden und seine Familie in der Heimat mit Geld unterstützen, er stamme aus ärmlichen Verhältnissen. Einen Onkel in Deutschland, von dem er in Asylbefragungen gesprochen haben soll, konnten die Beamten nicht finden. Über eine Verbindung zum oder von einer Gefahr durch die Terrormiliz "Islamischer Staat" soll er offenbar nichts erzählt haben.
Warum wurde der mutmaßliche Täter nicht abgeschoben?
Der Syrer hätte eigentlich nach Bulgarien zurückgeschickt werden sollen - denn dort war er Anfang Dezember 2022 erstmals registriert worden. Die europäischen Dublin-Regeln sehen vor, dass jenes Land für die Durchführung eines Asylantrages zuständig ist, in dem eine Person erstmals registriert wurde.
Bulgarien erklärte sich auch schnell bereit, den Syrer zurückzunehmen. Am 5. Juni 2023 scheiterte allerdings die für den frühen Morgen geplante Abschiebung per Flugzeug, weil Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld ihn nicht in seiner Unterkunft angetroffen hatten.
Nach Informationen von WDR und NDR sollen die Mitarbeiter in der Nacht nicht an Nachbartüren geklingelt oder beim Wachdienst nachgefragt haben, wo der Mann sei. Nachfragen dazu beantworteten die Behörde oder das Landesfluchtministerium bislang nicht. Polizisten, die der Recherche zufolge vor Ort waren, sollen offenbar lediglich Amtshilfe geleistet haben und nicht für den Einsatz verantwortlich gewesen sein.
Der Abschiebeversuch wiederum war dem Syrer nicht zuvor angekündigt worden, damit er sich dem Termin eben nicht entzieht - eine übliche Praxis. Nachforschungen des NRW-Landesfluchtministeriums haben ergeben, dass der Syrer im Buchungssystem der Unterkunft am Vortag und am Tag danach markiert wurde - also offenbar vor Ort war. Von Behördenseite aber wurde wohl nicht nochmal versucht, ihn anzutreffen. Der Mann galt somit jedoch auch nicht als untergetaucht. Das hatte Konsequenzen.
Wird eine Person etwa zur Festnahme ausgeschrieben und gilt als untergetaucht, dann kann das für das Asylverfahren zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Überstellungsfrist von sechs auf 18 Monate verlängern. Das ist in diesem Fall nicht passiert.
Ein erneuter Abschiebeversuch nach Juni 2023 wurde offenbar nicht in Betracht gezogen, da der nächste Platz für eine Abschiebung nach Bulgarien wohl erst im August frei geworden wäre. Da die Behörden im Regelfall aber nur sechs Monate Zeit haben, um eine Dublin-Überstellung durchzuführen, wäre das zu spät gewesen.
Ist die gescheiterte Rückführung eine Ausnahme?
Dass eine Dublin-Überstellung nicht funktioniert, ist eher der Normalfall. Im Jahr 2023 gab es rund 75.000 Dublin-Übernahmeversuche, aber nur rund 5.000 erfolgreiche Überstellungen. Die Gründe für das Scheitern sind unterschiedlich: Manchmal lehnen Staaten eine Überstellung ab - im Fall von Solingen war das nicht der Fall. Bulgarien hatte schnell zugestimmt.
Immer wieder untersagen auch Gerichte eine Überstellung. Zudem kommt es gelegentlich vor, dass sich Abzuschiebende widersetzen.
Eine Herausforderung für die deutschen Behörden besteht darin, dass die Kooperation mit dem aufnehmenden Staat oft kompliziert ist. Bulgarien etwa hat nach Angaben des Landesfluchtministeriums in NRW im Sommer 2023 nur Überstellungen per Flugzeug zugelassen - und dann nur per Linien- und nicht per Charterflug.
Und zwar nur an bestimmten Wochentagen. Dazu sind die Zahlen limitiert. So sind insgesamt die Möglichkeiten der Überstellung begrenzt - was im Fall Solingen laut dem Landesfluchtministerium wohl entscheidend gewesen sein soll, da die nächste Überstellungsmöglichkeit nach dem Juni erst Ende August gewesen sei.
Wie gelang es, den Syrer zu finden?
Von Freitagabend an suchte die Polizei mit allen verfügbaren Kräften nach dem zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten mutmaßlichen Täter. Im Laufe des Samstags verdichteten sich die Hinweise auf den Mann. Der Syrer hatte offenbar nahe des Tatorts eine Jacke mit Papieren verloren oder weggeworfen. Unter anderem mit Spürhunden wurde seine Spur verfolgt. Die Beamten fanden schließlich in einem Mülleimer das Messer, das wohl für die Tat genutzt wurde.
Zudem lieferte nach Informationen von WDR und NDR ein ausländischer Nachrichtendienst wichtige Informationen zu dem mutmaßlichen Attentäter, und zwar noch bevor Issa al-H. festgenommen worden war. In Sicherheitskreisen heißt es dazu, diese Hinweise stammten vermutlich aus der technischen Überwachung von Terroristen der Miliz "Islamischer Staat".
Anders als zunächst berichtet, soll sich der mutmaßliche Täter nach Informationen von WDR und NDR nicht der Polizei gestellt haben, sondern festgenommen worden sein. Er soll auch nicht den vielfach zitierten Satz "Ich bin der, den ihr sucht" gesagt haben. Vielmehr hätten Polizisten nahe des Tatorts eine Person wahrgenommen, die sich auffällig verhalten habe und dann den Mann kontrolliert. Darüber berichten auch die Welt und die Bild-Zeitung.
Die Polizeistreife soll Al-H. schließlich angesprochen haben, der Syrer wiederum soll den Beamten klargemacht haben, dass er kaum Deutsch spricht. Seine Deutsch- und auch Englischkenntnisse sollen sehr schlecht sein.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul bestätigte mittlerweile im Düsseldorfer Landtag, dass der Tatverdächtige sich nicht selbst gestellt hatte.
Er bestätigte zudem, dass das blutverschmierte Messer, das in der Innenstadt gefunden worden war, sehr wahrscheinlich das Tatmesser sei. Das aufgetauchte Bekennervideo werde derzeit von Experten seines Hauses geprüft. Es würde jedenfalls in die IS-Propaganda-Strategie passen, sagte der Innenminister. "Wir müssen Islamismus weiterhin sehr ernst nehmen", mahnte er.
Handelt es sich um einen Einzeltäter?
Inwiefern der Mann schon länger Anhänger des IS ist, das klären die Sicherheitsbehörden derzeit. Wichtig dafür könnte die Auswertung seiner Kommunikation sein. Ein Handy, das zunächst in einem Gully unweit der Asylunterkunft gefunden wurde, soll aber offenbar nicht dem Syrer gehören. Es soll schon länger in dem Abwasserkanal gelegen haben. Die Sicherheitsbehörden sollen derzeit nach Informationen von WDR und NDR versuchen, mehrere andere sichergestellte Geräte technisch auszulesen - in der Hoffnung, dass eines davon tatsächlich dem Mann gehört und Hilfe bei der Aufklärung bietet.
Wie läuft die Aufklärung des Falls?
Das Verfahren hat mittlerweile der Generalbundesanwalt in Karlsruhe übernommen. Gleichzeitig versuchen Behörden und Ministerien auf Landes- und Bundesebene, die Vorgänge zu rekonstruieren. NRW-Landesfluchtministerin Josefine Paul etwa sprach am Montag von einer "lückenlosen" Aufklärung. Man habe "sofort nach der Festnahme des mutmaßlichen Täters einen Bericht bei der Zentralen Ausländerbehörde in Bielefeld angefordert und alle notwendigen Informationen beim BAMF erbeten".
Tatsächlich aber erreichte nach Informationen von WDR und NDR das BAMF in Nürnberg erst am Tag darauf eine schriftliche Anfrage aus Nordrhein-Westfalen. Und zwar, nachdem Journalisten sich beim NRW-Fluchtministerium nach dem genauen Ablauf der Aufklärung erkundigt hatten. Auf Anfrage teilte das Ministerium mit, es habe zuvor einen Informationsaustausch auf Fachebene gegeben.
Das Erste zeigt heute um 22.50 Uhr den Film "Der Anschlag von Solingen - Chronik eines Versagens" - anschließend auch in der ARD-Mediathek.