Medizinisches Labor
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Medizinische Forschung Verschwiegene Studien 

Stand: 21.03.2023 19:01 Uhr

Immer noch bleiben viele medizinische Studien jahrelang unveröffentlicht. Das zeigt eine Auswertung von Wissenschaftlern der Berliner Charité. Mediziner kritisieren, dass dadurch Patienten gefährdet und Mittel verschwendet würden.

Fast 300 Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS) haben in der Zeit zwischen 2011 und 2017 an einer Studie der Uniklinik Mainz teilgenommen. Ihre Eltern hatten zugestimmt, dass Ärzte testen, ob mehrfach ungesättigte Fettsäuren in Kombination mit Zink und Magnesium die Gesundheit der Kinder verbessern. Die Studie ist inzwischen beendet, doch was dabei rausgekommen ist, ist nicht bekannt. Eine Veröffentlichung der Ergebnisse gibt es nicht. 

Den Gesundheitswissenschaftler Jörg Schaaber empört das: "Menschen setzten für die Teilnahme an einer Studie immer auch ein Stück weit ihre Gesundheit aufs Spiel", sagt er. "Ich finde es moralisch nicht vertretbar, wenn man diesen Einsatz, den die Probanden für die Allgemeinheit geben, nicht wieder zurückgibt."  

Die Uniklinik Mainz teilte auf Anfrage mit, dass die genannte Studie sich "aufgrund ihres komplexen Erhebungsmusters" noch in der Auswertung befinde. Dabei wurde sie formal bereits vor sechs Jahren abgeschlossen, wie aus einem Eintrag im zentralen Studienregister ersichtlich ist. Unabhängig davon müssten, die Ergebnisse auch gar nicht veröffentlicht werden, schreibt die Uniklinik auf Anfrage. Denn diese konkrete Studie unterliege "weder den Regularien des Arzneimittelgesetz noch des Medizinproduktegesetzes".

Die Mainzer ADHS-Studie an Kindern ist eine von insgesamt 1694 Studien, bei denen mindestens zwei Jahre nach Abschluss keine Ergebnisse veröffentlicht wurden. Herausgefunden haben das Forscherinnen und Forscher vom Berlin Institute of Health an der Charité, die ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift "PLOS Medicine" online veröffentlichen. "Insgesamt gab es zwischen 2009 und 2017 knapp 3000 Studien, nur von 41 Prozent wurden in den zwei Jahren nach Studienende Ergebnisse bekannt", berichtet Autorin Delwen Franzen. 

Franzen und ihre Kolleginnen und Kollegen haben gleichzeitig eine frei zugängliche Übersichtsseite ("Dashboard") ins Netz gestellt, in der man für jede Universitätsklinik in Deutschland die Zahl der nicht veröffentlichten Studien nachsehen kann.  

Große Unterschiede je nach Hochschule

Manche Universitäten kommen demnach zwei Jahre nach Abschluss auf 40 Prozent unveröffentlichte Studienergebnisse, andere Unis auf 80 Prozent. "Wir geben den Universitäten zum ersten Mal die Gelegenheit, sich selbst zu informieren, wie gut ihre Veröffentlichungsrate ist", sagt Daniel Strech, einer der Autoren der Studie. "Das ist vielleicht nicht angenehm für die Unis, aber es führt zu Verbesserungen."

Aber ist es nicht zu viel verlangt, zwei Jahre nach Abschluss einer Studie die Veröffentlichung der Ergebnisse zu erwarten? "Keineswegs", sagt Strech. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert bereits nach einem Jahr mindestens eine knappe Veröffentlichung der Ergebnisse und nach zwei Jahren dann eine Fachpublikation. Doch selbst nach fünf Jahren lassen sich nach Angaben von Franzen und Strech bei rund 30 Prozent der Studien keine Ergebnisse finden.

Gründe variieren

Die Gründe für die Nichtveöffentlichung seien vielfältig, sagt Stefan Sauerland vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). "Manche halten ihre Ergebnisse für langweilig oder für enttäuschend, aber das ist noch lange kein Grund, sie nicht zu veröffentlichen", kritisiert Sauerland.

Wenn man enttäuschende Ergebnisse nicht veröffentlicht, würden womöglich Patientinnen und Patienten weiter mit schädlichen Therapien behandelt. Oder andere Forscher an anderen Unis machen die gleichen Studien noch mal, weil sie nichts davon wissen, dass eine Frage schon einmal untersucht worden ist. "Das wäre dann auch noch sinnlose Verschwendung von Forschungsgeldern", sagt Sauerland.

Druck bei Arzneimittelstudien

Der Medizinwissenschaftler Till Bruckner aus Großbritannien, der mit seiner Organisation TranspariMED seit Jahren auf den Missstand unveröffentlichter Studienergebnisse aufmerksam macht, sieht immerhin in einem Bereich Verbesserungen: bei den Arzneimittelstudien. Hier fragen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) inzwischen aktiv bei den Studienverantwortlichen nach, wo die Ergebnisse bleiben, wenn sie nicht veröffentlicht werden. Die Folge ist, dass die Ergebnisse von Arzneimitteltests heute zu mehr als 90 Prozent zeitnah veröffentlicht werden. 

Viele Studien von Veröffentlichungspflicht ausgenommen

Das Problem ist jedoch, dass es nur für Arzneimittelstudien auch eine gesetzliche Verpflichtung gibt, Ergebnisse zu veröffentlichen. Das gilt aber nicht für Studien zu Nahrungsergänzungsmitteln wie im Fall der Mainzer ADHS-Untersuchung. Auch chirurgische Studien, Psychotherapie-Studien, zahnärztliche Studien oder Pflegestudien seien ausgenommen, sagt IQWiG-Forscher Sauerland: "Wir konnten im vorletzten Jahr eine neue Behandlungsmethode für Hirnmetastasen nur eingeschränkt bewerten, weil wir zwar sahen, dass diese in einer Studie untersucht wurde, aber die akademische Forschergruppe war nicht willens oder nicht in der Lage, die Studienergebnisse zu veröffentlichen."

Nach Einschätzung des Gesundheitswissenschaftlers Jörg Schaaber von der Buko Pharma-Kampagne klaffe immer noch "eine immense Publikationslücke" vor allem bei Studien zu Medizinprodukten und medizinischen Verfahren, aber auch bei älteren Medikamenten. 

Stefan Sauerland vom IQWiG fordert deshalb, dass der Staat einige einfache Regeln vorgibt. So muss bisher schon jede Studie an Menschen von einer Ethikkommission genehmigt werden. Die Ethikkommissionen könnten jeden bewilligten Antrag ans BfArM melden und das BfArM könnte dann ein Jahr nach Ende einer Studie beim verantwortlichen Forscher nachhaken, wo das Ergebnis sei. Und bei denen, die keine Studienergebnisse veröffentlichen, könnte die Ethikkommission künftige Studienanträge ablehnen. "Das wäre ein relativ einfaches, aber wirkungsvolles Verfahren", sagt Sauerland.