Brexit-Verhandlungen Rote Linien überall
Die Brexit-Verhandlungen scheiterten bislang vorgeblich an den roten Linien Londons. Aber mit wachsender Sorge vor einem harten Brexit steigt auch in der EU die Bereitschaft, selbst gesteckte Grenzen zu überdenken.
Nach der Ablehnung des Brexit-Vertrages durch das britische Parlament ist das Risiko eines harten Brexit so groß wie noch nie. Die Fronten in den Verhandlungen sind verhärtet - unter anderem in der Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Vor einem EU-Austritt ohne Ausstiegsvertrag warnte Kommissionschefunterhändler Michel Barnier gestern vor dem Europaparlament in Straßburg. Die EU-Kommission intensiviere deshalb ihre Anstrengungen, um auf den Fall eines chaotischen Brexit vorbereitet zu sein.
Aber man sei durchaus bereit, mit dem Vereinigten Königreich weiter zu verhandeln, so Barnier - vorausgesetzt, eine parteiübergreifende Mehrheit im britischen Unterhaus sei an einer engen EU-Beziehung interessiert und bereit, von den bisherigen sogenannten roten Linien abzurücken.
Guy Verhofstadt, Brexit-Verhandler des EU-Parlamentes, forderte die britischen Parlamentarier auf, die parteipolitischen Gräben zu verlassen.
Vier elementare Grundfreiheiten der EU
Auch der Brexit-Verhandler des EU-Parlamentes, Guy Verhofstadt, forderte die britischen Parlamentarier auf, die parteipolitischen Gräben zu verlassen und die bisherigen Definitionen ihrer "roten Linien" zu überarbeiten.
Verhofstadt spielte vor allem auf die bisherige britische Absage an die Arbeitnehmerfreizügigkeit an. Sie ist eine der vier elementaren Grundfreiheiten der EU und macht es möglich, dass Arbeitnehmer dort leben und dort ihrem Job nachgehen, wo sie es in der EU wünschen. Diese rote Linie sei doch von den Hardlinern in der konservativen Partei von Premierministerin Theresa May definiert worden, meinte Verhofstadt.
Wenn sich aber in Großbritannien eine parteiübergreifende Mehrheit von diesen selbst gezogenen Grenzen distanzieren würde - und zwar vor allem von dem Widerstand gegen die Einwanderung von Arbeitskräften aus der EU -, dann ist die Verhandlungsbereitschaft in Brüssel groß. Sowohl bei Barnier als auch bei Verhofstadt.
Eine 180-Grad-Wendung ist unwahrscheinlich
Die EU sei zu einer tieferen Beziehung zu den Briten bereit, sagte Verhofstadt. Es sei auch eine tiefere Beziehung möglich als in der bisherigen politischen Absichtserklärung der EU im Brexit definiert sei.
Doch die Wahrscheinlichkeit ist gleich Null, dass die Abgeordneten der Konservativen und von Labour im britischen Unterhaus plötzlich eine 180-Grad-Wendung vollziehen und nicht mehr auf das britische Recht pochen zu bestimmen, welche Arbeitnehmer mit welcher Qualifikation aus welchen EU-Ländern kommen dürfen und welche nicht.
Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses: "Die Arbeitnehmerfreizügigkeit macht aus dem Binnenmarkt ein politisches Projekt."
Röttgen zeigt Verständnis
Das Unterhaus ist zwar an einem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital interessiert, aber nicht an einem offenen Zugang für Arbeitnehmer aus der EU. Ein überzeugter Europäer, der die Briten in diesem Punkt durchaus verstehen kann, ist der CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Bereits nach dem Brexit-Referendum hatte Röttgen im Herbst 2016 dem ARD-Studio Brüssel gesagt: "Die Arbeitnehmerfreizügigkeit macht aus dem Binnenmarkt ein politisches Projekt."
Wer als Europäer wirklich an einem engen Verhältnis zu den Briten interessiert sei, der dürfe sie in puncto Niederlassungsfreiheit für EU-Arbeitnehmer nicht zwingen, gegen die beim Brexit-Referendum implizit artikulierte Überzeugung zu handeln, so Röttgen. "Wenn man nun aber sagt, ihr müsst genau das akzeptieren, was ihr gerade zurückgewiesen habt, dann ist es eben die Mitteilung: 'Wir wollen kein enges Verhältnis zu euch'".
Club kontinentaler Partnerländer
Röttgen hatte diese Überzeugung nach dem Brexit-Referendum auch in einer Denkschrift der Brüssel-Denkfabrik Breughel formuliert. Der Titel lautete "Europa nach dem Brexit". In der Denkschrift forderte er gemeinsam mit dem französischen Wirtschaftswissenschaftler Jean Pisany-Ferry, die EU müsse den Ländern entgegenkommen, welche das Binnenmarktprinzip der Arbeitnehmer-Freizügigkeit in Frage stellen - also zum Beispiel Großbritannien.
Eine neue Art EU-Freundeskreis, ein Club kontinentaler Partnerländer schwebte den EU-Vordenkern vor. Und mit einem solchen Club könnten sich viele Briten durchaus anfreunden, nicht aber die EU. Die EU-Grundfreiheiten sind für sie nur im Quartett zu haben - einschließlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das ist die Rote Linie der EU.