EU nach Brexit-Votum Schmerzen, Wut und Ratlosigkeit
Der Paukenschlag aus London löst in der EU Schmerzen aus - aber auch Wut. Jetzt spielen Kommission und Parlament die Szenarien durch. Die Vorbereitungen für einen harten Brexit laufen.
Gestern Morgen noch viel Trennungsschmerz im EU-Parlament, heute früh Ärger und Ratlosigkeit. Mehr als zwei Jahre Tauziehen, und dann das - das ist der Tenor im Parlament. Ein harter Brexit ohne Deal ist für viele wahrscheinlicher denn je. Wer gewonnen und wer verloren hat, ist für viele EU-Politiker unwichtig: "Das Ganze ist eine Lose-lose-Situation" - so war es nicht nur bei Manfred Weber (CSU) zu hören, der bei der Europawahl als Spitzenkandidat der Christdemokraten antritt.
Der Deal, mühevoll ausgehandelt, wer soll ihn jetzt noch retten? "Der Ball liegt zunächst einmal in London, bei Theresa May", erklärte der österreichische Europaminister Gernot Blümel, der noch kurz zuvor eine Bilanz des EU-Vorsitzes seines Landes gezogen hatte. In diese Zeit fiel auch der Verhandlungsabschluss mit der britischen Regierung über ein Austrittsabkommen mit Übergangszeiten, die die Scheidung erträglicher machen sollten.
"Alles ist unsicher!"
Die EU-Spitzen - auffällig geschlossen bis ins letzte Wort. Aber ohne irgendetwas zu verraten, wie sie sich die nächsten Wochen bis zum Brexit vorstellen: "Sicher ist nur eines, alles ist unsicher!", so formulierte es die irische Europaabgeordnete Mairead McGuinness. Klar nur: "Es gibt keine Unterstützung für das Abkommen, aber auch keine für den harten Brexit - für was aber dann überhaupt im britischen Unterhaus?"
Eine Antwort darauf wünschen sich die EU-Spitzen jetzt sehnlichst.
Die Vorbereitung auf den schlimmsten Fall läuft
Noch in der Nacht begannen die Vorbereitungen auf das, was eigentlich niemand will: Die Briten fallen aus der EU - ohne Netz und doppelten Boden. Plötzlich harte Grenzen, Zölle, Probleme im Flugverkehr, Rechtsunsicherheit für Bürger diesseits und jenseits der EU-Grenze. "Die Bürger dürfen nicht die Opfer dieses politischen Spiels sein", warnte Guy Verhofstadt. Der ehemalige belgische Regierungschef ist Brexit-Beauftragter des Europaparlaments. In Belgien würde man die Folgen eines harten Brexits besonders intensiv spüren.
Manfred Weber will es gar nicht so weit kommen lassen: "Es geht um Millionen Menschen, die betroffen sind, es geht um die nordirische Frage, die auch über Gewalt entscheidet in der Region, und es geht auch um die Austrittskosten, die irgendwie bezahlt werden müssen.“ So sieht es auch Österreichs Europaminister Blümel: "Das heißt aber nicht, dass es noch Verhandlungsspielraum seitens der EU gibt. Das ist Teil der britischen Innenpolitik", warnte er im ORF.
Alle Szenarien bergen Probleme
Eine vieldiskutierte Variante: Die britische Regierung bittet um Aufschub - der Brexit nicht schon am 29. März, sondern später. Das wäre nicht nur für den CDU-Europapolitiker Elmar Brok problematisch: "Das ist rechtlich geprüft und geht nur, wenn besondere Umstände da sind. Beispielsweise Neuwahlen oder ein neues Referendum." Den Vertrag noch mal aufzumachen - einen besseren zu finden, dass gehe aber nicht: "Was man in zwei Jahren nicht hinbekommt, bekommt man auch nicht in zwei Jahren und sechs Wochen hin".
Britische Neuwahlen hält man in Brüssel und Straßburg für unwahrscheinlich - trotz des Misstrauensvotums gegen May.
Viele EU-Diplomaten halten eine zweite Volksabstimmung für wahrscheinlicher - dann mit Unterstützung der lange zögerlichen Labour-Partei, die schon vorher die Alternativen Neuwahlen oder zweites Referendum angedacht hatte. Nur dann gilt eine Brexit-Schonfrist als denkbar - aber auch nur dann, wenn alle anderen 27 EU-Staaten die auch akzeptieren würden, was nicht sicher ist.
Ist ein harter Brexit "hochwahrscheinlich"?
Zu den wohl besonders unglücklichen Menschen gehörte gestern der Mann, der sich für die EU mit dem Abkommen abgemüht hatte: "Zusammenbleiben, nicht aueinanderdividieren lassen", ließ sich der französische Diplomat und Ex-EU-Kommissar Michel Barnier fast schon im Flüsterton vernehmen. Seine Botschaft: Der Deal möge noch eine zweite Chance bekommen.
Aber daran gibt es Zweifel: Zwei Drittel der Abgeordneten stimmten gegen das Abkommen - "eine krachende Niederlage für die britische Regierung", sagt der Vorsitzende der SPD-Europaabgeordneten, Jens Geier. Es habe sicherlich unterschiedliche Motive für das Nein gegeben. Deshalb ergebe der theoretisch mögliche Aufschub keinen Sinn. "Ebenso macht der drastische Stimmenabstand klar, dass kosmetische Änderungen am Vertrag die Mehrheiten nicht ausreichend verändern würden", meint er. Damit sei ein harter Brexit "leider hochwahrscheinlich".
Noch läuft im Hafen von Dover alles reibungslos. Aber was passiert, wenn Großbritannien von einem Tag auf den anderen nicht mehr in der EU ist - und das ohne jeden Vertrag?
"Alternativen hart, aber unausweichlich"
Reinhard Bütikofer ist Chef der Europäischen Grünen Partei und sieht das ähnlich: Das Ergebnis sei "eine dramatische Abfuhr für Theresa May". Das Parlament hat aber nicht gesagt, was es will, meint der EU-Abgeordnete. Auf diese Frage habe aber der Rest der EU endlich eine Antwort verdient. "Die Alternativen sind hart, aber unausweichlich", sagt er: Entweder werde Artikel 50 zurückgezogen - mit oder ohne neue Volksabstimmung -, oder es komme "zu einem harten Brexit der übelsten Art". Bütikofers Fazit: "Wer jetzt noch von Neuverhandlungen schwadroniert, ist ein Scharlatan".
Fabio De Masi, Europapolitiker und Linken-Fraktionsvize im Bundestag, sieht dafür aber noch einen Spielraum. Ein No-Deal-Brexit müsse verhindert werden. Die Rechte von britischen und EU-Bürgern müssten geschützt und in einem separaten Abkommen gesichert werden. Die Bundesregierung muss sich auf EU-Ebene für eine Verlängerung der Verhandlungsperiode einsetzen, um die Rechte von EU-Bürgern zu sichern und Neuwahlen in Großbritannien zu ermöglichen.