Maßnahmen nach Solingen "Unvereinbar mit der Menschenwürde"
Der Experte für Migrationsrecht Pichl kritisiert das geplante "Sicherheitspaket" der Ampel. Teile davon seien mit Menschenwürde und Sozialstaatsgebot nicht vereinbar. Es fehle eine größere Debatte über ein wirksames Vorgehen gegen Islamismus.
tagesschau24: Das Maßnahmenpaket der Koalition zu Asyl und Migration - ist das ein sorgfältig durchdachtes Konzept?
Maximilian Pichl: Nein, ich glaube, das Paket hat an ganz vielen Stellen auch verfassungsrechtliche Probleme, insbesondere was die Leistungskürzungen für sogenannte Dublin-Flüchtlinge betrifft. Da hat das Bundesverfassungsgericht eine sehr klare Linie bisher gehabt, dass Leistungskürzungen aufgrund von Abschreckungen nicht statthaft sind, nicht vereinbar sind mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot. Wir werden hier wieder Gesetze haben, die auch in Karlsruhe landen werden und überprüft werden müssen.
Ich glaube, das Problem ist, dass in dieser Debatte immer wieder große Dinge versprochen werden - im großen Stil abschieben, wie das beispielsweise der Bundeskanzler immer wieder gesagt hat - und das weckt Erwartungen in der Bevölkerung, die ja überhaupt nicht in einem liberalen Rechtsstaat auf diese Art und Weise tatsächlich durchgesetzt werden können. Und das ist hochgefährlich, weil dann auch rechte Parteien beispielsweise dieses Spiel weitertreiben können und die Regierung weiter unter Druck setzen.
Maximilian Pichl ist Professor für Soziales Recht als Gegenstand der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Asyl- und Migrationsrecht, kritische Rechtstheorie und interdisziplinäre Polizeiforschung. Zuvor arbeitete er als rechtspolitischer Referent der Menschenrechtsorganisation ProAsyl.
Warnung vor unbeabsichtigten Effekten
tagesschau24: Die geplanten Maßnahmen könnten also sogar gegen das Asylrecht verstoßen?
Pichl: Die Leistungskürzungen sind meines Erachtens unvereinbar mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot. Da wird es sicherlich Klagen geben und es gab ja jetzt gerade auch schon gegen die neu eingeführte Bezahlkarte erste Eilentscheidungen, wo auch gesagt wurde: Im Einzelfall müsse immer abgewogen werden.
Ich glaube, dass diese Maßnahmen auch nicht intendierte Effekte haben können, wenn man Menschen über sechs Monate beispielsweise das Existenzminimum kürzt. Das ist ja gerade ein Treiber für Kriminalität oder ein Anreiz für Menschen, sich vielleicht den Behörden zu entziehen. Ich denke, dass dieses Sicherheitspaket an dieser Stelle auch mehr Unsicherheit produziert.
"Sehr uneinheitliche Standards in der EU"
tagesschau24: In einem geeinten Europa können solche nationalen Maßnahmen nie auch ohne Europa gedacht werden. Wie sehen Sie die Maßnahmen im europäischen Vergleich?
Pichl: Wir haben insgesamt immer noch sehr uneinheitliche Standards in der Europäischen Union, und das betrifft im Übrigen auch die Überstellung nach Bulgarien im Falle des mutmaßlichen Solinger Attentäters.
Es gibt ja durchaus gute Gründe, warum teilweise nicht in Staaten wie Bulgarien abgeschoben wird, weil Flüchtlinge dort Obdachlosigkeit erwarten, weil sie eben nicht integriert werden. Es gibt Menschenrechtsverstöße in Griechenland oder auch in Italien. Man müsste also insgesamt darauf hinwirken, dass Menschen in Europa auch human behandelt werden.
tagesschau24: Welche Maßnahmen fehlen ihrer Ansicht nach in Deutschland, um die Migration generell besser zu steuern?
Pichl: Nach dem Solinger Attentat müssten wir eigentlich eine viel größere Debatte darüber führen, wie man gegen Islamismus wirksam vorgeht. Und da fehlen mir beispielsweise auch Präventionsansätze, die nur spärlich in dem Sicherheitspaket angedeutet werden.
Das Demokratiefördergesetz beispielsweise harrt immer noch auf die Beschlussfassung durch den Deutschen Bundestag und wird von der Koalition aktuell blockiert - obwohl es ja auch Möglichkeiten geben würde, Deradikalisierungsprojekte voranzutreiben.
Ich glaube, es wäre wichtig, dass in diesem Bereich mehr getan wird. Diese Abschiebedebatte, die wir aktuell führen, ist, glaube ich, Teil der sich verselbstständigenden nationalistischen Politik, die immer mehr zu Irrationalitäten führt.
"Sehr starke Verschiebung des Sagbaren"
tagesschau24: Ganz offensichtlich werden Terrorismus und Asyl gedanklich eng miteinander verknüpft. Dabei ist es ja kein Automatismus, dass jeder Terrorist auch Asylbewerber ist. Warum wird das dennoch so eng verzahnt gesehen?
Pichl: Ich möchte auch daran erinnern, dass kürzlich bei dem geplanten Anschlag in Wien auf das Taylor-Swift-Konzert der Tatverdächtige österreichischer Staatsbürger gewesen ist, mit nordmazedonischer Herkunft - und kein Flüchtling.
Also dieser Konnex zwischen Migration und Terrorismus, den automatisch zu ziehen, das ist falsch. Es gibt auch viel sogenannten "homegrown" Terrorismus, also Menschen, die hier aufgewachsen sind, die radikalisiert werden.
Ich glaube, wir erleben schon, dass es in den letzten Jahren eine sehr starke Verschiebung des Sagbaren gegeben hat in der Öffentlichkeit, und diese Rede von der Migration als Mutter aller Probleme sich wirkmächtig durchgesetzt hat. Wenn man aber immer nur diesen Fokus hat, dann verstellt man auch den Blick darauf, tatsächlich an die Ursachen von diesen Problemen heranzugehen.
"Außenpolitisch fatales Signal"
tagesschau24: In den ersten Tagen nach dem Attentat von Solingen sah es so aus, als ob CDU-Chef und Oppositionsführer Friedrich Merz den Takt angeben würde, was die Art und das Tempo der Maßnahmen betrifft. Hat sich diese Dynamik mit dem Maßnahmenpaket der Regierung nun geändert?
Pichl: Wir können ja beispielsweise sehen: Heute Morgen gab es den allerersten Abschiebeflug von verurteilten Straftätern nach Afghanistan, und das ist schon durchaus auch ein Dammbruch.
Ich weiß, das ist nicht populär in den aktuellen Zeiten, aber auch Straftäter haben Rechte. Denen steht auch die Menschenwürde zu und auch ein rechtsstaatlicher Schutz. Und da stimmt es nicht, was Innenministerin Faeser gesagt hat, dass Sicherheit immer vorgeht. Sondern da geht beispielsweise auch die Menschenwürde vor. Es gibt ja Instrumentarien des Strafrechts, um mit solchen Menschen umzugehen.
Und jenseits aller migrationspolitischer Implikationen führt dieser Abschiebeflug de facto natürlich auch zu einer Normalisierung des Taliban-Regimes. Und ich glaube, das ist ein außenpolitisch fatales Signal.
Das Gespräch führte Ralph Baudach für tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde es redigiert.