Gerichtsurteile Einzelfallentscheidungen für die Bezahlkarte?
Zwei Gerichte haben Asylsuchenden Recht gegeben, die gegen Bestimmungen zur Bezahlkarte geklagt hatten. Die Maßnahme an sich ist damit nicht gekippt. Doch es braucht einen genaueren Blick auf die Lebensumstände.
Nur noch mit Karte zahlen oder eine Bargeldobergrenze? Seitdem die Bezahlkarte für Asylsuchende eingeführt werden soll, ist sie mit all ihren Einschränkungen umstritten. Nun gibt es die ersten Entscheidungen von Sozialgerichten. Sie sind aber noch nicht rechtskräftig.
Das Sozialgericht Nürnberg hat in dieser Woche zwei Geflüchteten Recht gegeben, die gegen die Einschränkungen geklagt hatten. In einem der beiden Fälle führte die Klägerin an, dass sie mit der Bezahlkarte nicht günstig im Internet oder im benachbarten Nürnberg einkaufen könne. Sie könne auch nicht ohne weiteres Vereinen beitreten, weil die Überweisung der Mitgliedsbeiträge genehmigt werden müsse. Die zweite Klägerin argumentierte ähnlich.
Persönliche Lebensumstände berücksichtigen
Das Sozialgericht Hamburg hatte bereits eine Woche zuvor entschieden, dass starre Bargeldobergrenzen nicht geeignet sind, um den Mehrbedarf beispielsweise von Schwangeren oder Familien mit Kleinkindern zu decken. Eine geflüchtete Familie mit einem 2022 geborenen Kind, die in diesem Jahr das zweite Kind erwartet, hatte mehr Bargeld gefordert. Die Familie erhält derzeit einen Bargeldbetrag von 110 Euro, das Gericht sprach ihr nun einen Bargeldbedarf von 270 Euro zu.
Beide Gerichte forderten, dass die persönlichen Lebensumstände der Antragstellenden berücksichtigt werden müssen. Zugleich betonten die Gerichte, dass sie damit nicht die Bezahlkarte an sich infrage stellen.
Sinnvolles Instrument oder Symbolpolitik?
Geflüchtete in vielen Kommunen erhalten inzwischen statt Bargeld eine guthabenbasierte Karte mit Debit-Funktion, mit der sie ihre alltäglichen Ausgaben bezahlen sollen. Über die Höhe des Barbetrags und über weitere Zusatzfunktionen, zum Beispiel, ob nur in einer bestimmten Region damit bezahlt werden kann, entscheidet jedes Bundesland selbst.
In Bayern etwa sind die Karten seit Ende Juni überall im Einsatz. Mit ihnen können Asylsuchende in Geschäften einkaufen. Pro Monat können sie bis zu 50 Euro in bar abheben. Allerdings sind die Karten regional beschränkt und nicht für Online-Einkäufe gedacht.
Auslandsüberweisungen sind mit den Bezahlkarten generell nicht möglich. Die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder hatten die Maßnahme im Januar deshalb als Instrument gegen "menschenverachtende Schlepperkriminalität" gepriesen. Sie hatten außerdem weniger Verwaltungsaufwand bei den Kommunen versprochen.
Städte- und Gemeindebund fordert Kriterienkatalog
Doch ist der Verwaltungsaufwand geringer, wenn die zuständigen Ämter nun die Lebensumstände der Geflüchteten in Einzelfällen überprüfen müssen, wie die Gerichtsentscheidungen es fordern? "Wir hätten uns aus kommunaler Sicht eine bundesweit möglichst einheitliche Regelung gewünscht", teilt Marc Elxnat, Beigeordneter des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, auf Anfrage von tagesschau.de mit.
Aus kommunaler Sicht sei es nun wichtig, dass die Länder Kriterien entwickeln, wie der Bargeldbetrag bei bestimmten Sondersituationen zu bestimmen ist. Mit einem solchen Kriterienkatalog könnten die Prüfungen beschleunigt und die individuelle Situation der Geflüchteten trotzdem berücksichtigt werden.
"So könnten beispielsweise Richtlinien erarbeitet werden, wie der Bargeldbedarf bei Schwangerschaft oder etwa Alleinerziehenden gegenüber der Normalsituation steigt", so Elxnat. Dann könne durch die Bezahlkarte der Aufwand in der Verwaltung reduziert werden, auch wenn die individuelle Situation der Asylsuchenden berücksichtigt werden solle.
Zu den Entscheidungen in Nürnberg betont Elxnat, es sei positiv, "dass das Gericht die Bezahlkarte selbst nicht zu beanstanden hatte und grundsätzlich Bargeldbegrenzungen möglich sind".
Ist die Maßnahme verfassungskonform?
Von Anfang an war umstritten, ob die Bezahlkarte überhaupt verfassungskonform umgesetzt werden kann. "Die Einführung einer Bezahlkarte für Asylbewerber könnte juristisch problematisch sein", sagte der Verfassungsrechtler Joachim Wieland gegenüber ZDF frontal.
Asylsuchende hätten wie alle anderen Menschen in Deutschland auch einen Anspruch darauf, dass nicht nur ihre unmittelbar zum Leben benötigten Bedarfe befriedigt werden, also etwa Lebensmittel. Sie müssten auch die Möglichkeit haben, am Gemeinschaftsleben teilzuhaben. "Und das kann man nicht alles mit einer Karte bezahlen, da braucht man zum Teil auch Bargeld", so Wieland im Februar.
"Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass es dem Gesetzgeber grundsätzlich freigestellt ist zu entscheiden, ob er das menschenwürdige Existenzminimum mittels Sach- oder Geldleistungen deckt", sagte dagegen die Rechtswissenschaftlerin Gabriele Buchholtz von der Universität Hamburg im ARD-Podcast "Die Justizreporter*innen" im März. "Davon erfasst wäre also auch die Nutzung einer Bezahlkarte. Insofern ist das aus verfassungsrechtlicher Sicht und vonseiten des Bundesverfassungsgerichts wenig umstritten." Es komme auf die Ausgestaltung an.
"Aber selbstverständlich ist darauf zu achten, dass der existenznotwendige Bedarf gedeckt werden kann, auch wenn eine Bezahlkarte eingeführt wird", so Buchholtz. Die Karten unterschieden sich kaum von anderen EC-Karten, deshalb sei darin keine Diskriminierung zu erkennen. "Aber Diskriminierung kann eben auch dadurch entstehen, dass Menschen nicht in der Lage sind, an bestimmten Veranstaltungen teilzunehmen."
Pro Asyl: "Alltag mit vielen Unsicherheiten"
Mit mehreren Klagen zielen die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl und die Gesellschaft für Freiheitsrechte zurzeit darauf ab, die Einführung von Bezahlkarten in deutschen Bundesländern zu stoppen. "Die menschenwürdige Variante zur diskriminierenden Bezahlkarte sind ein Girokonto und eine reguläre EC-Karte", teilte Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, auf Anfrage von tagesschau.de mit.
Aus der Praxis höre die Organisation, dass die Bezahlkarte für die Betroffenen zu erheblichen Schwierigkeiten führe, so Judith. "Nicht jeder Laden akzeptiert die Karte, manchmal auch erst ab einem bestimmten Betrag des Einkaufs. Damit ist der Alltag mit vielen Unsicherheiten behaftet."