Pistorius zu US-Raketenstationierung "Von Wettrüsten kann keine Rede sein"
In Deutschland sollen weitreichende US-Waffensysteme stationiert werden. Ist es der Start zu einem neuen Wettrüsten? Verteidigungsminister Pistorius weist das in den tagesthemen zurück. Der Kreml aber warnt vor einer Rückkehr zum Kalten Krieg.
Ab 2026 wollen die USA Marschflugkörper vom Typ "Tomahawk", Flugabwehrraketen und neue Überschallwaffen in Deutschland stationieren. Eine Ankündigung, die in den Reihen einiger Parteien die Sorge vor einem möglichen neuen internationalen Wettrüsten schürt. Doch davon könne keine Rede sein, entgegnet Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius im Interview mit den tagesthemen.
Mit der geplanten Stationierung "holen wir das nach, was wir als Fähigkeitslücke beschreiben", sagt der SPD-Politiker. Denn Russland habe solche Systeme vermutlich schon länger in Kaliningrad stationiert - und damit "in absoluter Reichweite zu Deutschland und zu anderen europäischen Nationen", mahnt Pistorius. "Angesichts der neuen Bedrohungslage geht es um die Frage: Wie schrecken wir effektiv ab?"
Dazu brauche es Systeme, die auch "einem möglichen russischen Aggressor deutlich machen, wir sind in der Lage und bereit, uns zu verteidigen", so der Verteidigungsminister und fügt hinzu: "Jeder Schlag gegen uns wird auch beantwortet werden - und das auch konventionell."
"Wir sind selbst gefordert, solche Systeme zu entwickeln", mahnte Pistorius. Doch bis solche Systeme in Europa produziert werden können, werde es noch dauern." Bis dahin unterstützen uns die Amerikaner", so Pistorius, indem sie die entsprechenden Systeme zur Verfügung stellen würden.
Kreml kritisiert Schritt "in Richtung Kalter Krieg"
Russland kritisierte die angekündigte Stationierung als Schritt "in Richtung Kalter Krieg". In einem im staatlichen russischen Fernsehen veröffentlichten Interview warnte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow: "Alle Merkmale des Kalten Krieges mit der direkten Konfrontation kehren zurück." Zudem warf er den USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien erneut eine direkte Beteiligung am Krieg in der Ukraine vor.
Auch in Deutschland waren die Pläne auf scharfe Kritik gestoßen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht warnte, Deutschland drohe selbst zum Kriegsschauplatz zu werden. Pistorius wies das als "blanken Unsinn" zurück. Auch die Linkspartei hatte vor einem neuen möglichen Wettrüsten gewarnt.
Es gehe nicht darum, "wettzurüsten und jemanden zu überholen", es gehe darum "gleichzuziehen, damit eine Abschreckung glaubhaft sein kann", betonte Pistorius. Mit dem Ziel, eine weitere Eskalation und eine weitere militärische Auseinandersetzung von vorneherein zu verhindern. Auf diese Art und Weise "sichern wir unsere Art zu leben, in Sicherheit und in Freiheit, ab".
Habeck wertet Stationierung als notwendig
Auch den Redebedarf, den der grüne Koalitionspartner infolge der Ankündigung vom NATO-Gipfel angemeldet hatte, kann der Verteidigungsminister nicht ganz nachvollziehen. Die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen, Sara Nanni, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz zu einer Erklärung über die Hintergründe und die finanziellen Aspekte der geplanten Stationierung aufgefordert.
Eine mangelnde Kommunikation zwischen den Ampelpartnern weist Pistorius aber zurück. Die Notwendigkeit von Abstandswaffen - ein Thema, über das Kanzler Scholz schon auf der vergangenen Münchner Sicherheitskonferenz im Februar gesprochen habe. Zum anderen stehe es in der nationalen Sicherheitsstrategie und man habe im Vorfeld auch darüber gesprochen.
Am Donnerstagabend kommen vom grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dann auch andere Töne. "Aufrüstung ist erst mal nichts, mit dem ich mich leicht tue", sagte er der Zeitung Neue Westfälische. Und doch, die Entscheidung für die Stationierung sei notwendig. "Wir müssen die Wehrhaftigkeit steigern, weil wir in einer sehr bedrohlichen Zeit leben, die anders ist als in den 80er-Jahren. Deshalb verbietet sich Naivität", mahnte Habeck. Doch sich sicherheitspolitisch besser aufzustellen, dürfe für Deutschland nur der erste Schritt sein. "Wir dürfen nicht dabei stehen bleiben, in Kriegsszenarien zu denken. Die Arbeit muss auf den Frieden gerichtet sein", forderte der Grünen-Politiker.
Eine "lange vorbereitete" Entscheidung
Mit der russischen Bedrohung und der dadurch notwendigen Abschreckung hatte zuvor auch Kanzler Scholz am Rande des NATO-Gipfels in Washington argumentiert. "Wir wissen, dass es eine unglaubliche Aufrüstung in Russland gegeben hat, mit Waffen, die europäisches Territorium bedrohen", hatte er vor Journalisten betont. Deutschland müsse "einen eigenen Schutz haben mit Abschreckung", und dazu seien die Präzisionswaffen notwendig.
Die Entscheidung, weitreichende Waffen in Deutschland zu stationieren, sei "lange vorbereitet" worden, betonte Scholz. Sie sei "für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen keine wirkliche Überraschung". Und wie auch sein Bundesverteidigungsminister verweist der Kanzler auf die nationale Sicherheitsstrategie. In diese passe diese Entscheidung genau hinein und immerhin sei diese Strategie öffentlich diskutiert worden.
Experte rechnet mit nachfolgenden Debatten
Der ehemalige Oberst Wolfgang Richter, ehemaliger Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, rechnet aber durchaus damit, dass die geplante Stationierung noch für Gesprächsstoff sorgen wird. Denn im Vorfeld habe eine innenpolitische Debatte darüber gefehlt. Die Ankündigung vom NATO-Gipfel, ins einen Augen sei das eine "Exekutiventscheidung". Darum gehe er davon aus, dass noch eine größere parlamentarische Debatte folgen werde, sagte Richter im Interview mit tagesschau24.
Und eventuell bleibt es aus Sicht des Experten nicht bei Nachfragen auf innenpolitischer Ebene, sondern auch von dem ein oder anderen Bündnispartner. Denn beim Beschluss der Stationierung handele es sich um eine "bilaterale Entscheidung". Es sei "erstaunlich", dass ein solcher Schritt nicht von der NATO als gesamten Bündnis angekündigt wurde.
Deutschland will sich an Projekt ELSA beteiligen
Am Mittwoch hatten das Weiße Haus und die Bundesregierung mitgeteilt, dass erstmals seit dem Kalten Krieg wieder US-Waffensysteme in Deutschland stationiert werden sollen, die bis nach Russland reichen.
Von 2026 an sollen Marschflugkörper vom Typ "Tomahawk" mit deutlich mehr als 2.000 Kilometern Reichweite, Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und neu entwickelte Überschallwaffen für einen besseren Schutz der NATO-Verbündeten in Europa sorgen. Moskau ist etwa 1.600 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt.
Zudem unterzeichneten auf dem Gipfel Deutschland, Frankreich, Italien und Polen eine Absichtserklärung, für die gemeinsame Verteidigung ein weitreichendes Waffensystem entwickeln zu wollen. Die Erklärung soll die Grundlage für das das Projekt ELSA ("European Long-Range Strike Approach") bilden. Ziel ist es einen Marschflugkörper zu entwickeln, der eine deutlich größere Reichweite als der deutsche "Taurus" besitzt, welcher etwa 500 Kilometer weit fliegt.