Satellitenaufnahme eines russischen Militärstützpunkts mit Panzern und Artillerie in der Nähe der Stadt Woronesch.
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Spannungen mit Russland Was ist Warnung, was Hysterie?

Stand: 02.02.2022 17:14 Uhr

Die Spannungen mit Russland zeigen, wie sehr es an Transparenz und damit Vertrauen zwischen West und Ost mangelt. Welche Warnungen gerechtfertigt, welche übertrieben sind, was Fakt und was Desinformation ist, ist so noch schwerer zu unterscheiden.

Immer neue Bilder von Panzern und anderen Militärfahrzeugen aus Russland und Belarus, Militärübungen von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer - seit Wochen lösen sie Sorgen darüber aus, ob militärische Auseinandersetzungen, gar ein Krieg bevorstehen. Die russische Führung beteuert, man plane keinen Einmarsch in der Ukraine. Sie erklärt aber auch nicht, wozu der Aufmarsch dient.

Ende Januar setzte Russland auch die im Rahmen der OSZE vereinbarten gegenseitigen Militärinspektionen bis Ende Februar aus. Als Grund wurde die Corona-Pandemie angegeben. Dank Satellitenaufnahmen und Bildern in sozialen Medien ist es allerdings möglich, Truppenbewegungen unabhängig zu beobachten. Militärexperten debattieren darüber, was sich aus der Anwesenheit von Kampfbataillonen, Spezialeinheiten und Militärtechnik schließen lässt.

Warnungen, die für Unsicherheit sorgen

In diese Ungewissheit hinein sorgen Aussagen von westlichen Politikern und Militärs, die als Warnung gemeint sind, für Unsicherheit. So zitierte die britische "Times" den norwegischen Premier Jonas Gahr Store, von Russland unterstützte Hacker hätten norwegische Institutionen ins Visier genommen. Doch offenbar bezog er sich damit auf Cyberaktionen in der Vergangenheit.

Für Kontroversen sorgte die Anordnung des US-Außenministeriums, Angehörige des US-Botschaftspersonals sollten die Ukraine verlassen. Auch das britische Außenministerium rief einige Beschäftigte und Angehörige zurück, während die EU noch keinen Grund für eine solche Entscheidung sah.

Auffällig ist der zeitliche Zusammenhang zur Übergabe der Antworten der USA und der NATO auf Russlands Forderungen und zur Einschätzung der US-Regierung, dass Russland nun genügend Truppen zusammengezogen habe, um die Ukraine anzugreifen. Die Agentur Reuters zitierte drei US-Militärs, wonach medizinische Ausrüstung und Blutkonserven an die Grenze zur Ukraine gebracht worden seien, was auf eine Bereitschaft zum militärischen Vorgehen Russlands schließen lasse.

Diskrepanzen zwischen Kiew und Washington

Doch ausgerechnet die Führung in Kiew kritisierte Ansagen und Vorgehen der US-Regierung als überzogen, wobei nicht nur Präsident Wolodymyr Selenskij, sondern auch Mitarbeiter aus dem Sicherheitsapparat die Lage als weniger bedrohlich beschrieben. Diese Diskrepanz wird in Medienberichten damit begründet, dass beide Seiten über verschiedene Möglichkeiten zur Aufklärung der Lage verfügten und sich die Ukraine bereits seit acht Jahren im Krieg befinde, was die Wahrnehmung verändere. Die Regierung in Kiew wolle zudem Panik in der Bevölkerung sowie eine Verschärfung der Wirtschaftslage vermeiden.

Zuvor hatte das britische Außenministerium schon für Verwunderung gesorgt, als es Szenarien über eine Installation einer pro-russischen Regierung in Kiew veröffentlichte. Als möglicher Anführer eines Staatsstreichs wurde der Ex-Abgeordnete Jewhenij Murajew genannt, der eine kleine Partei führt und einen Nachrichtensender besitzt. Experten wie der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy halten ihn und drei weitere Genannte jedoch aktuell für wenig einflussreich. Die pro-russischen Kräfte seien insgesamt zerstritten und geschwächt.

Machtkämpfe in der Ukraine

Allerdings hatte Selenskij selbst kürzlich vor einem Staatsstreich gewarnt, in den Oligarch Rinat Achmetow involviert sein könnte. Es liegt jedoch nahe, dass Selenskij damit auf die Lage im Land abzielte, da er versucht, die politische Macht der Oligarchen zurückzudrängen.

Inwieweit er dabei hinter den Kulissen Deals mit dem einen oder anderen Oligarchen schließt, ist Gesprächsthema in der Ukraine. Das Problem ist, dass die großen Medien jenen Oligarchen gehören und diese nach Interessenlage über Themen berichten, oder auch nicht. Das Militär und Aussagen seiner Vertreter genießen Vertrauen in der Bevölkerung, dies gilt mit Abstrichen für das Innenministerium und den Geheimdienst SBU, die noch nicht grundlegend reformiert wurden.

Insofern sind Berichte zum Beispiel über die Festnahme von Personen, die Massenunruhen geplant haben sollen, schwer einzuschätzen. Die Unsicherheit wird verstärkt durch die Erfahrungen mit der Annexion der Krim und den Ausbruch des Konflikts im Donbass, bei denen Russland auf Verschleierungsmethoden setzte und Putin erst im Nachhinein das Offensichtliche zugab: dass russische Sicherheitskräfte beteiligt waren.

Desinformation, Mutmaßungen, Interpretationen

Um die Lage besser einschätzen zu können, verfolgen Beobachter, wer aus dem Umfeld der russischen Führung welche Aussagen machen und wie die russischen Medien berichten - wird die Stimmung gegen die Ukraine und den Westen weiter angeheizt, wie wird über tatsächliche oder angebliche Vorfälle, auch unter "falscher Flagge" berichtet, die einen Einmarsch in der Ukraine rechtfertigen könnten.

Think Tanks, Experten und Politiker aus den baltischen Staaten, Polen, der Ukraine und den USA versuchen, auf bedrohliche Entwicklungen in der Ukraine und Russland aufmerksam zu machen und fordern Konsequenzen. So gibt das "Atlantic Council" in Washington täglich einen Newsletter "Ukraine Alarm" heraus.

Im Mittelpunkt steht die Frage, was Putin planen könnte. Die geforderten Sicherheitsgarantien werden als neue Sicherheitsarchitektur für Europa interpretiert. Die USA sollten sich zurückziehen, Russland wolle militärische Kontrolle über seine Grenzen hinaus ausüben. So fasst zum Beispiel Fiona Hill, zuletzt unter US-Präsident Donald Trump Mitarbeiterin des Nationalen Sicherheitsrates, die Forderungen zusammen.

Transparenz und Vertrauen

Als Referenz dient auch ein Aufsatz Putins "Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer" von 2021. Er schrieb, die Ukraine könne nur in enger Anlehnung an Russland unabhängig sein, seit mehr als 1000 Jahren seien Russen, Belarussen und Ukrainer ein Volk. Da Putin mit dem Schutz der Russen Militäraktionen rechtfertigte, wird der Aufsatz als Begründung für einen weiteren Einmarsch in die Ukraine interpretiert.

Unabhängige Berichte zur Lage in der Ostukraine liefert eine OSZE-Beobachtungsmission. Jedoch ist ihr Mandat eingeschränkt. Regelmäßig wird den Beobachtern der Zugang zum Separatistengebiet verweigert, Drohnen und Kameras zerstört. Im September entschied Russland, das Mandat einer OSZE-Mission an der russisch-ukrainischen Grenze nicht zu verlängern. Damit ging ein weiteres Mittel verloren, mit dem für Transparenz und damit Vertrauen gesorgt werden sollte.

Der Verlust der gegenseitigen Kontrollmechanismen trägt zur Unsicherheit bei. Entsprechend mehren sich die Forderungen, diese Regeln wieder umzusetzen und zu schaffen - verbunden mit neuen Festlegungen auf die Präsenz von Truppen und Raketen, um die Kriegsgefahr in Europa zu minimieren.

Mitarbeit: Maria Kalus, ARD-Studio Kiew

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 02. Februar 2022 um 17:00 Uhr.