Sicherheitspolitik in Europa Große Aufgaben, wenig Macht
Der Ukraine-Konflikt hat Gräben zwischen Ost und West aufgerissen, von einem neuen Rüstungswettlauf ist die Rede. Im Kalten Krieg fanden beide Seiten in der KSZE zusammen, heute soll die Nachfolgerin OSZE helfen, die Spannungen abzubauen.
Von Silvia Stöber, tagesschau.de
"Eine brandgefährliche Bedrohung der europäischen Sicherheit" sei in den vergangenen anderthalb Jahren entstanden, warnte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier kürzlich mit Blick auf den Ukraine-Konflikt und dessen Folgen. Es sei viel Vertrauen kaputt gegangen. Steinmeier sprach vor dem Ständigen Rat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien.
In diesem Gremium sind die Spannungen zwischen Ost und West besonders zu spüren, kommen doch dort allwöchentlich die Vertreter der 57 OSZE-Mitgliedsstaaten zusammen. Dazu zählen nicht nur die europäischen Staaten inklusive Russland, sondern auch die USA und Kanada sowie die Türkei, die südkaukasischen und zentralasiatischen Staaten und die Mongolei.
Spannungen überwinden
Steinmeier sieht die OSZE als Dialog-Plattform zur Überwindung der derzeitigen Spannungen und verweist dabei auf die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen. Bereits vor 40 Jahren, am 1. August 1975, erfolgte in der Schlussakte von Helsinki eine Einigung auf Grundprinzipien. Damals war es noch die "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE).
In der Schlussakte wurden unter anderem die Unverletzlichkeit der Grenzen, territoriale Integrität, Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten und Gewaltverzicht vereinbart. Alle Teilnehmerstaaten verpflichteten sich zudem auf die Einhaltung der Menschenrechte inklusive der Meinungs- und Pressefreiheit. Außerdem wurden sicherheitspolitische Maßnahmen vereinbart. So sollten künftig Militärmanöver angekündigt und Beobachter der anderen Seite zugelassen werden.
Wenngleich die KSZE-Schlussakte völkerrechtlich nicht bindend war, so entfaltete sie doch politische Wirkung. Die persönlichen Gespräche der Vertreter aus Ost und West führten zu mehr Vertrauen zwischen beiden Seiten. In der Folge wurden Abkommen zur Rüstungskontrolle ausgehandelt. In der Sowjetunion und anderen Staaten des Warschauer Vertrages gründeten sich Helsinki-Gruppen und weitere unabhängige Organisationen, die mit Verweis auf die Schlussakte mehr politische Freiheiten einforderten und letztlich zum Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 80er-Jahre beitrugen.
In der Krise werden die Schwächen offenbar
Die KSZE überlebte. 1995 wurde aus der Konferenz die Organisation OSZE mit Sitz in Wien, doch mit dem Abbau der Spannungen in Europa gerieten die OSZE und die Rüstungsabkommen aus dem internationalen Fokus.
Große Aufmerksamkeit erfuhr die OSZE erst wieder, als der Krieg in der Ostukraine Maßnahmen zur Konflikteindämmung und -lösung erforderte. Die OSZE-Staaten einigten sich auf zwei Missionen zur Überwachung der Maßnahmen in der Ostukraine, die zwischen den Konfliktparteien in Minsk vereinbart worden waren.
Doch inmitten der Spannungen mit Russland wurde offenbar, wie schwach die OSZE als Organisation ist und wie wenig die einstigen Sicherheitsabkommen noch wert sind. Nun ertönt der Ruf, dies zu ändern. Deutschland, das im Jahr 2016 den Vorsitz in der OSZE übernimmt, wolle einen Beitrag dazu leisten, kündigte Steinmeier an.
Mehr Verantwortung übernehmen
OSZE-Generalsekretär Lamberto Zannier verweist im Interview mit tagesschau.de darauf, dass die Staaten in der OSZE nicht Mitgliedsstaaten wie in anderen Organisationen genannt werden, sondern "teilnehmende Staaten". Dies zeige, dass die Umstrukturierung von der Konferenz zur Organisation noch immer nicht abgeschlossen sei. Wenn man aber eine effektive und effiziente Organisation wolle, müsse die OSZE-Führung mehr Verantwortung erhalten.
Eine internationale Expertengruppe um den deutschen Ex-Diplomaten Wolfgang Ischinger fordert eben dies, will allerdings zugleich am Einstimmigkeitsprinzip und damit am Vetorecht für jedes einzelne Land in der OSZE festhalten.
Zannier sagt, der Übergang von der Konferenz zur Organisation sei noch immer nicht abgeschlossen.
Eine weitere Schwäche der OSZE ist, dass sie keine Rechtspersönlichkeit hat. Damit fehle den Mitarbeitern der OSZE-Missionen ein rechtlicher Schutz, erklärt OSZE-Generalsekretär Zannier. Dies sei aber umso wichtiger, je gefährlicher die Einsatzorte seien.
Militärische Komponente für die OSZE-Mission in der Ukraine
Zannier geht noch einen Schritt weiter. Er schlägt vor, die zivile Mission in der Ostukraine mit einer militärischen Komponente zu versehen, um sie robuster zu machen: Zur Selbstverteidigung leicht bewaffnete Beobachter könnten sich dann auch in Gebiete wagen, die derzeit aus Sicherheitsgründen tabu sind. Möglich wäre dann zum Beispiel auch der Einsatz von Bundeswehr-Drohnen, zu deren Schutz eine militärische Komponente nötig ist.
Zannier zufolge erlauben die OSZE-Vereinbarungen auch Peacekeeping-Missionen wie im Rahmen der UNO. Diese könnten Friedensvereinbarungen notfalls mit Waffengewalt durchsetzen.
Angesichts der Erfahrungen mit Friedensmissionen in den vergangenen Jahren zeigt sich der russische Außenpolitik-Experte Iwan Timofeew im Interview mit tagesschau.de allerdings skeptisch. Der Experte des regierungsnahen Russischen Rats für internationale Angelegenheiten in Moskau verweist zum Beispiel auf das Massaker von Srebrenica 1995, das die UN-Blauhelmsoldaten nicht verhindert hätten.
Atmosphäre wie im Kalten Krieg
Hingegen spricht sich Timofeew dafür aus, das Thema Menschenrechte auch weiterhin im Rahmen der OSZE zu behandeln. "Russland hat immer die Idee der Menschenrechte in der OSZE unterstützt. Aber die Menschenrechtsdebatte wurde als politisches Instrument missbraucht, um die russische Innenpolitik zu beeinflussen und das politische Regime zu ändern. So wird das hier in Russland wahrgenommen." Aus diesem Grund habe zum Beispiel eine strikte Gesetzgebung für Nichtregierungsorganisationen eingeführt werden müssen.
Die russische Sichtweise führt beim allwöchentlich in Wien tagenden Ständigen Rat der OSZE zu heftigen Kontroversen. OSZE-Generalsekretär Zannier fühlt sich bei diesen Debatten regelmäßig an die Atmosphäre des Kalten Krieges erinnert. Es sei schwer, Raum für Verhandlungen zu finden. Allerdings, betont Zannier, sei es doch gelungen, in der Ukraine eine der größten OSZE-Missionen zu implementieren.
Alte Bedrohungsszenarien statt neuer Antworten
Andrej Kortunow, Generaldirektor des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten, sieht jedoch ein derart großes Vertrauensproblem zwischen Russland und dem Westen, dass er einen grundlegenden Neubeginn für nötig hält.
Er schlägt vor, auf Vizeminister- und Expertenebene mit einem Dialog über einfach zu klärende Dinge zu beginnen und darüber neues Vertrauen aufzubauen. So könne man technische Vereinbarungen treffen, um künftig Zusammenstöße und Abstürze von Flugzeugen zu verhindern.
Auch solle man über gemeinsame Bedrohungen wie den islamistischen Terrorismus sprechen. Kortunov kritisiert: Statt sich auf diese Gefahr zu konzentrieren, richteten sich die führenden Militärs Russlands und der NATO auf einen neuen Rüstungswettlauf gegeneinander ein. Für diesen Ost-West-Konflikt seien sie einst ausgebildet worden, weshalb sie sich mit den alten Bedrohungsszenarien gewissermaßen wohl fühlten. Die islamistische Bedrohung erfordere hingegen neue Antworten, sagt Kortunow und zitiert ein Sprichwort: "Generäle bereiten sich immer auf den letzten Krieg vor, nicht auf den nächsten."
Doch, das sagt Kortunow auch, das kürzlich geschlossene Atomabkommen mit dem Iran zeige, dass der Westen und Russland noch gemeinsam an Lösungen arbeiten können und sich Misstrauen in Verhandlungen überwinden lasse.