Migranten in Marokko Blockiert im Niemandsland
Oujda im Nordosten Marokkos ist für viele Migranten ein Wartesaal in Richtung Europa. Viele haben traumatische Erfahrungen von der Flucht. Doch die Hoffnung geben sie nicht auf - und das hat auch mit der Ukraine zu tun.
Youssef Chemlal steht an einer Brücke in Oujda, Marokkos Grenzstadt zu Algerien im Nordosten des Königreichs. Er blickt auf das ausgetrocknete Flussbett. Dort liegen Matratzen, Plastik, teilweise zerfetzte Klamotten herum - es stinkt nach Müll und Urin.
Tagsüber herrschen hier im Sommer bis zu 40 Grad, eine "höllische Hitze", wie Chemlal es nennt, und nachts kommen die Insekten und Moskitos. Unter der Brücke hätten Sudanesen gelebt, sagt Chemlal - "mit einem Minimum an Hoffnung" hätten sie und andere versucht, hier irgendwie im Alltag klarzukommen.
Von den zahlreichen Migranten unter der Brücke ist nun nichts mehr zu sehen - der Ort wurde geräumt.
Aufklärung und Suche
Chemlal gehört zu einer Nichtregierungsorganisation (AMSV), die sich um Migranten und Geflüchtete kümmert, die in Oujda ankommen. Sie verteilen Informationsflyer, helfen beim Asylantrag, klären über Risiken auf, machen Angehörige von Verstorbenen ausfindig, um sie in Oujda mit Namen beerdigen zu können.
Die 500.000-Einwohner-Stadt im Nordosten Marokkos ist für viele Migranten eine Transitstadt, nur wenige Kilometer von der algerischen Grenze entfernt. Von hier aus bereiten die meisten ihre letzte Etappe vor, Richtung Norden, über das Mittelmeer oder in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla.
Youssef Chemlal von der Nichtregierungsorganisation AMSV kümmert sich um Migranten und Geflüchtete in der Grenzstadt Oujda.
Das Gefühl, gefangen zu sein
Diese letzte Etappe ist gleichzeitig die schwierigste. Mit dem Ziel vor Augen an der letzten Grenze zu scheitern, ist extrem frustrierend - so fühlten sich viele in Marokko gefangen, sagt Chemlal.
Ihre Berichte sind echte Leidensgeschichten. Sie werden an den Grenzen von der Schleppermafia ausgebeutet. Algerien will sie nicht haben, die marokkanischen Behörden wollen sie nicht haben - und so befinden sie sich blockiert im Niemandsland.
Kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt
Dieses Niemandsland erklärt sich aus marokkanischer Sicht vielleicht so: Marokko hat kein Interesse daran, sich um noch mehr junge Menschen ohne Arbeit kümmern zu müssen, die womöglich im Land bleiben.
Davon gibt es in Marokko nämlich schon viele: Vor Jahren hatte das Land massenhaft Aufenthaltsgenehmigungen für Migranten ausgestellt - das sei allerdings schon lange vorbei, jetzt schiebe die Regierung verstärkt ab, schildert Hannes Stegemann, Direktor der Caritas in Marokko, die sich viel um die Ankommenden kümmert.
In Marokko sei die Situation nun mal nicht so wie in Deutschland oder Europa, wo vielen langsam klar werde, dass sie ein Interesse daran haben, dass Migranten kommen. "Die marokkanische Gesellschaft muss erst einmal die eigenen Leute ausbilden und in Brot bringen."
Denn Marokko ist selbst ein Land mit einer überwiegend jüngeren Bevölkerung, die der Arbeitsmarkt kaum aufnehmen kann. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch.
Deswegen wollen auch gerade viele junge Marokkaner weg - wenn sie können, mit Visum und Flugzeug, wenn sie müssen, per Boot über das Mittelmeer oder eben in die spanischen Exklaven.
In der Altstadt von Oujda, auf unbebautem Gelände, haben einige Migranten sich notdürftig eingerichtet.
Papiere, aber keine Bleibe
Chemlal läuft in die Medina, die Altstadt. In einer Seitenstraße sitzen in einem kleinen Café etwa zwölf junge schwarze Männer auf kleinen Plastikstühlen, unterhalten sich auf Arabisch, trinken Tee - sie kommen aus dem Sudan.
Einige von ihnen seien erst seit kurzem in der Stadt, andere schon mehrere Monate, erzählt einer von ihnen. Viele von ihnen hätten zwar Flüchtlingspapiere - aber keine Bleibe. Deshalb schliefen sie auf der Straße: "Uns fehlt humanitäre Hilfe, Bäder, ein Schlafplatz, Sauberkeit."
Traumatische Geschichten, die sich ähneln
Die Geschichten der jungen Männer sind ähnlich: Die meisten kennen sklavenähnliche Zustände, Gewalt, Missbrauch. Fluchtroute über Libyen, dort mit Hunderten festgehalten in Gefängnissen, erst durch Zahlungen von bis zu 1000 Euro seien sie freigekommen.
Dann sei es zurückgegangen über Algerien, für mehrere hundert Euro über die Grenze nach Marokko - wenn sie nicht von den algerischen Behörden aufgegriffen und in der Wüste Richtung Niger ausgesetzt worden seien.
Endstation für viele ist Oujda: vorläufig, bis die finanziellen Mittel wieder für die Weiterreise reichen.
Dann eben über Ceuta
In der Altstadt hinter einem Zaun, auf unbebautem Gelände, liegen Matratzen; ein junger Mann vermischt auf einer ausgebreiteten Plastiktüte weißes Waschpulver mit Wasser und wäscht seine Kleidung. Der Platz ist von der Sonne aufgeheizt; sie versuchen ihn notdürftig mit Plastikplanen und Klamotten zu beschatten.
An einer Wand sitzen und lehnen circa 30 junge Männer im spärlichen Schatten. Ob sie von den Ereignissen im Sommer in Melilla gehört haben? Ende Juni waren mindestens 23 Migranten gestorben, als sie versucht hatten, die gut bewachten Zäune der spanischen Exklave zu überwinden. Augenzeugen beschrieben die Szenen wie eine Schlacht zwischen marokkanischen Grenzbeamten und Migranten.
Die Bilder, die Gewalt - das habe ihnen Angst gemacht, erzählt einer der jungen Männer. Mit diesen Bildern im Kopf traue er sich nicht, weiter Richtung Melilla zu reisen. Er wolle nun versuchen, über Ceuta einzureisen.
Beschwerde über Zerrbilder
Wenn nicht Melilla, dann eben ein anderer Weg Richtung Europa, das sagen viele hier immer wieder. Was den jungen Männern aber gar nicht passt: Wie sie in der Öffentlichkeit von den Behörden dargestellt werden.
Man behaupte, sie seien gewalttätig, beschwert sich einer von ihnen, doch das stimme nicht. Vielmehr verhalte sich die Regierung schlecht gegenüber den Menschen an der Grenze. Manche würden getötet, verprügelt, viele würden im Krankenhaus landen.
Und die Position der EU sei ungerecht und unmenschlich: "Die Menschen in Europa haben so viel und verschließen einfach ihre Tür."
Bilder von Ukrainern wecken Hoffnung
Ein Blick ins Handy reicht vielen als Motivation zum Weiterreisen aus. Gerade die Bilder von Geflüchteten aus der Ukraine, die auch in Deutschland mitfühlend aufgenommen wurden, motivieren Migranten hier in Oujda.
Sie fragen: "Wenn die mit offenen Armen empfangen werden, warum dann nicht wir?"