Ungeordneter EU-Austritt "Der No-Deal-Brexit wird unterschätzt"
Welche Auswirkungen hätte ein ungeordneter EU-Austritt Großbritanniens? Was würde ein No-Deal-Brexit für die Menschen auf den britischen Inseln und auf dem Festland bedeuten?
Welche EU-Regelungen wären von einem No-Deal-Brexit vor allem betroffen?
Bestimmend sind vor allem die Zollunion und der EU-Binnenmarkt. Wenn sie wegfallen, fehlen die wichtigsten zwischenstaatlichen Verabredungen zwischen den EU-Ländern und Großbritannien. Deshalb sei das No-Deal-Szenario "eine sehr, sehr schlechte Lösung", sagt der Rechtswissenschaftler Matthias Ruffert von der Humboldt-Universität Berlin im Gespräch mit tagesschau.de. Im Gegensatz zu einem geregelten Brexit würden jegliche Übergangsfristen und alle möglichen Sonderregelungen wegfallen, so Ruffert. Alles müsse neu verhandelt werden.
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, links, und der Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, im Europäischen Parlament.
Was regeln Zollunion und Binnenmarkt?
Die Zollunion regelt zwei Dinge. Zum einen stellt sie eine Freihandelszone dar. Auf dieser Grundlage wurden mit ihrer Einführung die Zölle zwischen den EU-Staaten abgeschafft. Für Großbritannien würden sie im No-Deal-Fall wieder eingeführt. Die verbleibenden Mitgliedsstaaten richteten mittlerweile 20 neue Grenzkontrollpunkte für Transporte aus Großbritannien ein, teilte die EU Ende März mit. Tausende Zöllner seien zusätzlich eingestellt worden.
Das zweite Element der Zollunion ist der gemeinsame Außenzoll. Das heißt, alle Mitglieder haben den gleichen Zoll gegenüber Drittländern. Den einzelnen EU-Mitgliedstaaten ist es nicht möglich, eigene Zollvereinbarungen mit Drittstaaten wie zum Beispiel China oder Südafrika zu schließen. "Entweder ist man drin oder man ist nicht drin", sagt Ruffert. Ausnahmen in der Zollunion gebe es nicht. Die Zollunion gelte jedoch lediglich für Waren.
Den Binnenmarkt dagegen könne man als "eine Zollunion für alles" bezeichnen, sagt Ruffert. Zum Binnenmarkt gehörten zum Beispiel auch der freie Kapitalverkehr, die Niederlassungsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Er umfasst ein abgegrenztes Wirtschaftsgebiet und regelt somit zum großen Teil Bestimmungen in der EU, die den einzelnen Bürger als Verbraucher und Arbeitnehmer betreffen.
Was würde sich für britische Bürger in der EU verändern?
Für Briten in Deutschland soll es eine dreimonatige Übergangsfrist geben, in der sich nichts ändert. Das Bundesinnenministerium will dafür eine Verordnung erlassen, teilte ein Sprecher mit. Das bisherige Aufenthaltsrecht werde fortbestehen. Während dieser Zeit sollen Betroffene einen langfristigen Aufenthaltstitel bekommen können. 105.480 Briten ohne Doppelpass leben in Deutschland.
Ähnliche Verordnungen müssen im Falle eines No-Deal-Brexits alle EU-Länder einzeln treffen. Im Detail würden die Regelungen somit voneinander abweichen. Insgesamt leben rund eine Million Briten auf dem europäischen Festland.
Im Fall eines Scheiterns von Mays Vertrag mit der Europäischen Union versprachen auch die Briten, die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien zu sichern.
Was würde sich für EU-Bürger in Großbritannien ändern?
Auch die britische Regierung muss rechtlich abgesicherten Verhältnisse für die mehr als drei Millionen EU-Bürger im Land sicherstellen. Der EU-Vertrag von Premierministerin Theresa May sah eine Übergangszeit vor, in der Aufenthalt, Erwerbstätigkeit, Familiennachzug sowie Ansprüche an die Sozialkassen und die Anerkennung beruflicher Qualifikationen geregelt werden. Für den Fall eines Scheiterns des Vertrags versprachen aber auch die Briten, einseitig die Rechte der betroffenen Bürger zu sichern.
Welchen Einfluss hätte ein No Deal für den Handel und den Warenverkehr?
Ein ungeordneter Brexit würde viele Branchen vor große Probleme stellen. Spediteure wären mit umfassenden Zollkontrollen und langen Wartezeiten bei der Ein- und Ausreise ihrer Lkw konfrontiert. Der Einzelhandel rechnet mit Lieferengpässen nach Großbritannien - vor allem bei frischen Lebensmitteln.
Dasselbe gilt auch für die Pharma- und Chemieindustrie auf der Insel. Als Vorkehrung gegen einen drohenden Zusammenbruch der Lieferketten teilte die britische Regierung im Februar mit, Lkw aus der EU ohne zusätzliche Genehmigung ins Land lassen. Auch Importzölle sollen für zahlreiche Waren gestrichen werden.
In der Autoherstellung seien ganze Produktionsketten gefährdet, sagt Rechtswissenschaftler Ruffert. Auch der europäische Luftfahrtkonzern Airbus befürchtet negative Folgen. Unternehmenschef Tom Enders warnte die Briten Ende Januar in einer Video-Botschaft. Er sagte: "Wenn es einen Brexit ohne Abkommens gibt, müssen wir bei Airbus möglicherweise sehr schädliche Entscheidungen für Großbritannien treffen." Die Produktion könne auch in andere Länder verlagert werden. "Die britische Luft- und Raumfahrtindustrie steht nun am Abgrund. Der Brexit droht, ein Jahrhundert der Entwicklung auf der Grundlage von Bildung, Forschung und Humankapital zu zerstören."
Viele Firmen und Gesellschaften - auch in der Finanzbranche - erstellten Notfallpläne für einen ungeordneten Brexit. Einige verlagern ihren Unternehmenssitz aufs Festland.
Welche Probleme würde es im Luftverkehr und im Tourismus geben?
Großbritannien und die EU versuchen, mit Übergangsregeln dafür zu sorgen, dass der Luftverkehr in Europa weitgehend ungestört weitergeht. Dennoch: Um möglichen Auswirkungen des ungeordneten Brexits zu entgehen, gründete der britische Billigflieger Easyjet eine Tochter in Österreich. Der irische Konkurrent Ryanair mit starken Standorten in Großbritannien schuf in Polen eine Ferienfluggesellschaft. Die beiden Unternehmen wollen durch die Verlagerung der Logistik und die daran gebundenen Lizenzen für das Starten und Landen in der EU einem möglichen Chaos nach dem Brexit entgehen.
Innerhalb der EU dürfen nur Airlines Flüge anbieten, die zu mehr als 50 Prozent im Besitz von EU-Ansässigen sind und kontrolliert werden. Wegen der hohen Anteile britischer Aktionäre laufen der Luftfahrtkonzern IAG (mit Iberia, Vueling, Aer Lingus), Ryanair, Easyjet sowie die Airlines der Reisekonzerne Thomas Cook (Condor) und TUI Gefahr, Verkehrsrechte zu verlieren. Doch zunächst bekommen sie eine Übergangsfrist. Ein No-Deal-Brexit werde sich stark auf den Verkehrsbereich auswirken, sagt Ruffert. "Das muss man erstmal sauber hinkriegen."
Die Tourismusbranche in Großbritannien und in den bei Briten beliebten Reiseländern Spanien, Frankreich und Italien würde wahrscheinlich ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Ein No Deal könnte bedeuten, dass viele Urlauber wegen Unsicherheit über Visum oder Führerschein oder einem sinkenden Pfund-Kurs lieber zu Hause bleiben.
Was versprechen sich die Anhänger eines ungeordneten Brexit?
Ruffert sagt, es könne sein, dass die "Hardline Brexiteers" darauf setzen, dass es doch irgendwie gehe und dass sie dann sagen könnten, "seht ihr, ohne EU läuft es doch". Dieses Szenario sei jedoch lediglich denkbar in einer Situation, in der eine vorher verhandelte Auffanglösung die Auswirkungen abfedere. "Aber bei einen harten Brexit werden sie ja nicht alles auffangen", sagt Ruffert. "Der No-Deal-Brexit wird unterschätzt." Dennoch sei der ungeordnete EU-Austritt mittlerweile deutlich wahrscheinlicher geworden.