Debatte über EU-Austritt "Harter Brexit nicht unausweichlich"
Verlässt Großbritannien die EU ohne Deal? Er sei nicht ganz so pessimistisch, sagt Politikprofessor Gerhard Dannemann im Interview mit tagesschau24. Die kommenden Tage würden noch etwas Bewegung bringen.
tagesschau24: Herr Dannemann, der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments Guy Verhofstadt sieht einen harten Brexit als fast unausweichlich, wie es heißt. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein?
Gerhard Dannemann: Sie ist noch einmal größer geworden. Die einzigen, die sich richtig freuen nach dem gestrigen Abstimmungs-Debakel, sind die Hardliner, die einen harten Ausstieg befürworten. Die sind aber immer noch weit in der Minderzahl. Ich würde nicht ganz so pessimistisch sein wie Herr Verhofstadt. Ich glaube nicht, dass ein harter Brexit unausweichlich ist. Die kommenden Tage werden noch etwas Bewegung bringen. Theresa May wird vermutlich ein viertes Mal versuchen, den Antrag zur Abstimmung zu stellen, dass die ausgehandelten Abkommen verabschiedet werden sollen.
Vielleicht ist da noch etwas Bewegung drin und die Abstimmung wird mit einem Referendum verbunden oder der Möglichkeit, dass das Parlament künftig etwas mehr Kontrolle haben wird, um diesen Antrag schmackhafter zu machen. Es wird sich auch das Parlament noch einmal treffen. Da ist immer noch Luft drin. Wenn man sich das Abstimmungsverhalten im Einzelnen anschaut, sind da noch sehr viele taktische Stimmen dabei. Einige der Parlamentarier könnten doch noch eine der abgelehnten Optionen unterstützen, wenn sie merken, dass ihre favorisierte Option nicht durchkommen wird.
Gerhard Dannemann ist Professor für Englisches Recht, Britische Wirtschaft und Politik. Er lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin.
tagesschau24: Aber dennoch fragt man sich ja nach dem gestrigen Abend: Was wollen die britischen Abgeordneten eigentlich?
Dannemann: Ganz unterschiedliche Dinge. Es gibt eben immer noch welche, die den harten Ausstieg wollen - eine kleine Gruppe 20, 30 vielleicht 40. Es gibt diejenigen, die immer noch das Abkommen unterstützen, das gar nicht wenig. Aber das reicht nicht. Es gibt die Anhänger einer Zollunion, denen drei Stimmen nur fehlten.
Es gibt die Anhänger eines Verbleibs im europäischen Binnenmarkt. Das war auch relativ knapp. Und es gibt noch immer eine große Gruppe, die ein zweites Referendum bewirken will, damit Großbritannien in der Europäischen Union bleibt. Diese Gruppen behindern sich gegenseitig in der Mehrheitsfindung. Keiner von ihnen hat eine Mehrheit und es müssen wieder einmal schmerzliche Kompromisse gemacht werden - sowohl in der Regierung als auch im Parlament.
tagesschau24: Diese letzte Variante, die Sie angesprochen haben: Sechs Millionen Briten haben die Online-Petition bereits unterzeichnet. Darüber wurde gestern Abend auch gesprochen. Müsste denn die britische Regierung das nicht berücksichtigen?
Dannemann: Die britische Regierung hat dazu Stellung genommen und hat gesagt, sie berücksichtigt sie, so wie Theresa May alles berücksichtigt und sich anhört, aber ihre Position nicht ändern wird. Das Parlament hat gestern über diese Option abgestimmt und eine knappe Mehrheit hat das abgelehnt.
Ganz tot ist dieses Ansinnen deswegen noch nicht, weil man es nochmal kombinieren kann. Zum Beispiel: Wir verabschieden doch alle Abkommen wie beschlossen und stellen die dann in einem Referendum der britischen Öffentlichkeit zur Wahl. Das ist noch eine der Möglichkeiten, die eruiert werden wird in den kommenden Tagen. Aber die Zeit wird immer knapper.
tagesschau24: Was denken Sie, wie könnte denn so ein Referendum, das Sie gerade skizziert haben, bei der Bevölkerung angenommen werden?
Dannemann: Sehr gemischt. Da ist die Bevölkerung den Umfragen zufolge auch gespalten. Diejenigen, die weiterhin überzeugt sind von einem Brexit, lehnen es grundsätzlich ab. Auch unter denjenigen, die für einen Verbleib gestimmt haben, gibt es einige, die sagen: Nein, wir wollen das nicht nochmal machen.
Es gibt auf beiden Seiten der Camps "Verbleiber" und "Brexiter" aber auch Leute, die es befürworten - und sei es als ein Prozess der Befriedung. Hier ist die Situation eben auch sehr unübersichtlich und das bewirkt, dass selbst eine sechs-Millionen-Petition nicht sofort durchgeht und als die Lösung angesehen wird.
tagesschau24: Und was bedeutet dieser Brexit für das Ansehen der Politik in Großbritannien? Wie groß ist der Schaden angerichtet wird?
Dannemann: Der ist sehr groß. Die Politikverdrossenheit hat sich schon in dem Referendum selbst widergespiegelt. Es werden wohl eine ganze Reihe von denjenigen, die für den Brexit gestimmt haben, das weniger aus europapolitischen Gründen gemacht haben, als ihre Verdrossenheit mit der Politik zu bekunden. Aber da es so schwierig ist, dafür eine Lösung zu finden, steigt die Politikverdrossenheit im Land weiterhin. Dauerhaft ist das natürlich nicht gut. Das wird eine ganze Weile dauern, bis das Land sich davon wieder erholt hat.
Das Interview führte Kirsten Gerhard, tagesschau24