Ein durch die Kämpfe zwischen ukrainischen und russischen Truppen zerstörter Bezirk von Tschassiw Jar (Ukraine)

Militärische Lage der Ukraine An vielen Frontabschnitten unter Druck

Stand: 12.07.2024 10:27 Uhr

In der laufenden Offensive Russlands haben die ukrainischen Truppen zwar einen großen Durchbruch verhindern können. Aber der Druck auf sie bleibt hoch. Wie bewerten Militärexperten die Lage an der Front?

Von Andrea Beer und Birgit Virnich, ARD Kiew

Die Frontlinie des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist mehr als 1.200 Kilometer lang. Gekämpft wird in den Regionen Cherson im Süden, Saporischschija im Südosten, sowie den Gebieten Charkiw, Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine, wobei die Region Luhansk fast vollständig russisch besetzt ist.  

Serhij Osatschuk ist Offizier bei den Grenztruppen und in der Stadt Kramatorsk stationiert und für das Zusammenwirken mit der Armee und den Einsatz aller Bataillone und Brigaden der Grenztruppen an der Front im Osten zuständig. "Die Ostfront brennt", fasst er die Lage kurz und bündig zusammen.

Seit zweieinhalb Jahren ist der 52-Jährige an den Hotspots unterwegs, in Bachmut, Awdijiwka oder Tschassiw Jar. Die russischen Truppen würden Tag und Nacht angreifen und ukrainische Stellungen mit allem beschießen, was ihnen zur Verfügung stünde, so Osatschuk, der betont, nicht für die gesamten ukrainischen Verteidigungskräfte zu sprechen.

Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Taktik der verbrannten Erde

Die Ukraine stehe an mehreren Frontabschnitten unter Druck, erklärt der ukrainische Militäranalyst Oleksandr Kovalenko. "Die russischen Streitkräfte verstärken ihre Offensive, wobei sie zunehmend schwere Bomben aus der Luft abwerfen, die große Verwüstung in Städten und Dörfern anrichten", erklärt er. Ukrainische Soldaten berichten aus der Stadt Tschassiw Jar, da sei nichts, was man noch verteidigen könne.

Die russische Armee setze eine Taktik der verbrannten Erde ein. Mehr als ein Drittel der Gefechte finden rund um Prokrovsk statt, und in der Region Donezk setzen sie mit Hilfe der Luftwaffe ihre Zerstörung rund um das Dorf Nju-Jork York fort.

Die nordöstlichen Grenzgebiete rund um Sumy und Tschernihiw leiden unter ständigem Beschuss. Dabei nutze die russische Armee vor allem die Überlegenheit ihrer Luftwaffe, erklärt Kovalenko.

Gleitbomben und Drohnen mit verheerenden Folgen

In den vergangenen Wochen sei die "russische Feuerwalze" noch intensiver geworden, berichtet Serhij Osatschuk. Russland setze gegen ukrainische Stellungen im Gebiet Donezk die zerstörerischen und praktisch geräuschlosen Gleitbomben ein und mindestens doppelt so viele russische Kamikazedrohnen. Zudem verwende Russland dort auch international verbotene Waffen wie Gasbomben und Gasgranaten.

Das Unterstützungskommando der ukrainischen Streitkräfte veröffentlichte dazu Ergebnisse der strahlenchemischen Aufklärungstruppen: Demnach setzte Russland im Mai 2024 715 mal Munition mit verbotenen chemischen Verbindungen ein, vor allem in Drohnen. Trotz des Drucks konstatiert Offizier Osatschuk, spürbare Erfolge russischer Truppen am Boden hätten verhindert werden können - etwa mit Hilfe von ukrainischen und ausländischen Drohnensystemen und elektronischer Kampfführung. Gleichzeitig verliert Angreifer Russland nach ukrainischen Angaben viele Soldaten, Material und Kriegsgerät.

Warten auf die F-16

Die ukrainische Abgeordnete Oleksandra Ustinowa von der Oppositionspartei Golos stellt fest, es bestehe Einigkeit darüber, dass die Lieferung von F-16-Kampfjets die Situation verbessern würde, doch die Ausbildung der ukrainischen Piloten sei in den USA ins Stocken geraten.

Zwar haben sich laut New York Times, Belgien, Dänemark, die Niederlande und Norwegen verpflichtet, mehr als 60 F-16 Kampfflugzeuge an die Ukraine zu liefern, die noch in diesem Jahr an die Ukraine übergeben werden könnten. Doch unklar bleibt, wann sie tatsächlich eingesetzt werden können, erklärt Ustinowa.

Derzeit werden acht ukrainische Piloten in Arizona und zwölf in Dänemark ausgebildet. Das reiche bei weitem nicht. Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte am Rand des NATO-Treffens in Washington, dass die Lieferung zu lange dauere. Die Ukraine brauche 128 Kampfflugzeuge, denn Russland könne täglich 300 Flugzeuge einsetzen.

Die Ukraine warte immer, wird Selenksyj von ukrainischen Medien zitiert: "So wie meine Mutter nach der Schule auf mich gewartet hat, und ich immer einen Grund fand, später zu kommen. Das ist dasselbe, nur viel ernster."

Russland bereitet sich seinerseits auf die F-16 Kampfflugzeuge für die Ukraine vor. Seit Juni 2024 greift der Kreml systematisch Militärflugplätze in der Ukraine an, insbesondere in Myrhorod in der Region Poltawa und in den Regionen Chmelnyzkyj und Kiew. Der britische Geheimdienst bringt diese Angriffe mit der erwarteten Lieferung moderner Kampfflugzeuge in Verbindung.

Die "Probleme einer Mobilisierungsarmee"

Flugabwehr würde fehlen, betont auch der ukrainische Armeechef Oleksandr Sirskyj immer wieder. Und er nennt ein weiteres Problem: Kommandeure hätten zurzeit vor allem das Problem, gut ausgebildete und motivierte Soldaten zu finden.

Viele seit 2014 im Donbas kampferfahrene Armeeangehörige seien gefallen, sagt Militärexperte Gustav Gressel vom Think Tank European Council on Foreign Relation dem ARD-Studio Kiew. Die Ukraine habe gute Leute und erfahrene Brigaden, aber auch viele, die schlecht ausgebildet seien. Und der Stand der Ausbildung einzelner Kommandeure sei heterogen. "Das ist das Problem jeder Mobilmachungsarmee", so Gressel.

Zu Beginn habe die ukrainische Armee flexibler kämpfen können und damit Stärken wie selbständige Kampf- und Entscheidungsführung ausspielen können. Jetzt müsse eine feste Frontlinie verteidigt werden, die in Abschnitte unterteilt ist, was eine andere Herausforderung sei

Eine Botschaft an die NATO

Den jüngsten Angriff auf das Kinderkrankenkhaus in Kiew wertet die ukrainische Führung als Signal an die NATO, mit Russland dem vor dem NATO-Gipfel Stärke demonstrieren wollte. Militärexperte Oleksandr Kovalenko konstatiert, der Angriff mit einem Marschflugkörper, einer Hochpräzisionswaffe, zeige auch, dass Kiew, aber auch andere Städte in der Ukraine, eine hochwertige gestaffelte Luftverteidigung brauchen - ähnlich wie in Israel.

Diese könne dann einen Teil der russischen Raketen schon im Anflug abfangen. Er erwarte von den internationalen Partnern, die Erlaubnis, auf dem Gebiet Russlands mit westlichen Waffen anzugreifen. "Mit den uns gelieferten ATACMS könnte die Ukraine diese Flugplätze in Russland erreichen."

Solange der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine tobt, wird das Land kein NATO-Mitglied werden. Bis dahin setzt Kiew auf bilaterale Sicherheitsabkommen, unter anderem mit den USA und Deutschland. Diese Woche wurde Nummer 21 mit Luxemburg unterschrieben.

Für den Offizier der Grenztruppen, Serhij Osatschuk, sind diese nur ein Mittel, um auf dem Weg in die NATO im Gespräch zu bleiben. Denn: "Alles andere außer der NATO-Mitgliedschaft ist eine Illusion."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 12. Juli 2024 um 11:00 Uhr.