Lage der Krimtataren "Tiefe Spuren" von zehn Jahren Besatzung
Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim vor zehn Jahren veränderte auch das Leben der Krimtataren massiv. Viele verließen seither ihre Heimat, wurden enteignet oder in Gefängnisse gesteckt. Heute sehen sie ihre Kultur bedroht.
"Wir sind die großen Verlierer der Annexion der Krim, und seit Kriegsbeginn 2022 hat sich unsere Lage noch einmal verschärft", erklärt Azeez Umerow bei der Vorführung eines gerade erschienenen Dokumentarfilms über zehn Jahre Besatzung auf der Krim. Viele Krimtataren sind an diesem Abend in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zusammengekommen, um Erinnerungen an die Heimat auszutauschen.
Umerow will von seiner Schwester erzählen. Seit einem Jahr sitzt die junge Frau in Russland in Haft. "Sie war nie politisch aktiv. Sie wollte nur unseren krebskranken Vater besuchen", berichtet er.
Ein Albtraum beginnt
Die damals 24-jährige Studentin Lenije Umerowa, war vor einem Jahr, wie schon so oft zuvor, auf der Krim mit dem Bus auf dem Weg zu ihrer Familie in der zentralen Stadt Simferopol, als sie von russischen Soldaten in Haft genommen wurde. Sie war die Einzige im Bus, die einen ukrainischen Pass hatte. Als 16-Jährige hatte sie sich gegen einen russischen Pass entschieden, der nach der völkerrechtswidrigen Annexion auf der Halbinsel ausgeteilt wurde.
Mittlerweile sitzt sie im berüchtigten Lefortowo-Untersuchungsgefängnis in Moskau. Ihr wird Spionage und Verrat vorgeworfen. Der einzige Kontakt zur Außenwelt sind Briefe. "Sie werden zensiert", sagt Umerow. "Alles, was den Behörden nicht passt, wird unkenntlich gemacht."
Urlaubsort und militärisches Hauptquartier
Die Krim hat für Russland große strategische Bedeutung als eisfreier Standort ihrer Schwarzmeerflotte. Und die Krimtataren standen schon in der Sowjetunion unter einem Generalverdacht. Stalin unterstellte ihnen, sie hätten mit den Nazis kollaboriert und ließ sie 1944 nach Zentralasien deportieren. Erst 1988 durften sie in ihre angestammte Heimat zurückkehren.
Heute werden sie wieder enteignet und inhaftiert, viele verbüßen langjährige Haftstrafen. Seit Beginn der Invasion im Februar 2022 verließ die Hälfte der rund 500.000 Krimtartaren die Halbinsel. Ihre Kultur ist bedroht.
Die Spuren der Besatzung
"Die Russen versuchen, die Identität der Krimtataren auszulöschen," erklärt Tamila Tashewa. Seit 2019 vertritt sie offiziell die Interessen der Bewohner der Krim in der Ukraine. "Zehn Jahre Besatzung haben tiefe Spuren hinterlassen“", meint sie. Moscheen, Denkmäler und historische Gebäude wurden zerstört. "Unsere Kinder haben keine Möglichkeit mehr, auf der Krim unsere Sprache zu lernen. Das wurde verboten."
Tashewa setzt sie sich ein für politische Gefangene wie Bogdan Ziza, der zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, nachdem er das Verwaltungsgebäude der Stadt Jewpatorija mit blauer und gelber Farbe beschmiert hatte, den Nationalfarben der Ukraine.
Sie will Russland für die Verbrechen an den Krimtataren zur Verantwortung ziehen. Mit einem Team von mehr als 40 Mitarbeitern trägt Tashewa Beweise zusammen, um diese eines Tages dem Internationalen Strafgerichtshof vorzulegen. Unterstützt wird sie dabei von Krimtataren aus aller Welt.
"Sie folgen den Spielregeln der Sowjetunion"
Die Länge der Haftstrafen für politische Gefangene und die Bedingungen in den Straflagern seien schlimmer als zu Zeiten der Sowjetunion, erklärt Tashewa. "Es sind zwar Gerichte der russischen Föderation, die die Urteile fälle, aber sie folgen immer noch den Spielregeln der Sowjetunion." Und die Straflager seien wie Gulags und damit eine Struktur, die die Sowjetunion überlebt habe.
Die Lage werde immer schwieriger, erklärt Emil Kurbedinow, einer der wenigen krimtatarischen Anwälte, die noch auf der Krim verblieben ist. Seine Familie wurde 1944 von Stalin deportiert. Er selbst kehrte als junger Mann auf die Krim zurück.
Es sei gefährlich für ihn, allein mit westlichen Journalisten zu sprechen, doch sein Wunsch nach Gerechtigkeit sei größer als seine Angst, erklärt er. Andere versuchen, vom ukrainischen Kernland aus oder aus dem Ausland, Widerstand zu leisten.
Azeez Umerow, dessen Schwester in russischer Haft sitzt, glaubt, Russland wolle die Krimtataren einschüchtern, "damit wir uns der Propaganda fügen, dass die Krim doch eigentlich russisch sei". Die Krimtataren setzen dagegen, dass sie seit Jahrhunderten auf der Halbinsel leben. Deshalb kämpfen sie um das Überleben ihrer Kultur - und für ihre grundlegenden Rechte.