Ukrainische Soldaten "Wir sind die letzte Bastion vor Kupjansk"
Mangel an Soldaten führt dazu, dass viele Ukrainer über Monate an der Front bleiben, bevor sie sich ein paar Tage erholen können. Im Urlaub berichten sie von ständigen Angriffswellen und hohen Verlusten auf beiden Seiten.
Am Treffpunkt muss es schnell gehen: Russische Spähdrohnen könnten in der Luft sein und die Artillerie benachrichtigen. Keine zehn Kilometer sind es von Kupjansk-Vuzlovyi bis zur Front.
Also eine kurze Begrüßung, dann geht es durch den Garten in ein kleines Haus. In der Diele ziehen die Soldaten die Schuhe aus. Hier muss mal eine Familie gelebt haben, an der Wand hängt noch ein Hochzeitsfoto. Erst seit dem Vortag sind die Soldaten hier, nach zwei Monaten unter Dauerfeuer im Schützengraben.
Davon erzählt ein Mann mit kahlgeschorenen Haaren und rundem Gesicht. Sein Rufname: "Kabatschok" - zu deutsch "Zucchini": "Wir sollten einen Psychologen sehen. Wir müssen etwas für unser Hirn tun. Denn wir waren zwei Monate in einer solchen Scheiße, dass man es keinem erklären kann. Zwei Monate haben wir unsere Position nicht verlassen. Dauerbeschuss: Minenwerfer, Drohnen, Explosionen. Es ist schwer vorstellbar. Auf unserer Position ist es wie in einem Wespennest."
Tägliche Angriffswellen
Die Männer sind gezeichnet von den vergangenen Monaten, die Gesichter wirken eingefallen. Sie gehören der Infanterie der 43. mechanisierten Brigade an, die den Frontabschnitt östlich von Kupjansk für die Ukraine an einer schwierigen Stelle verteidigt. Vor ihnen liegen russische Einheiten, hinter ihnen der Fluss Oskil.
Die Brücke über ihn ist in Kupjansk längst zerstört, Behelfsbrücken werden sofort von der russischen Artillerie beschossen. Also führt nur noch eine zerfurchte Straße zur Stellung der Brigade. Von der nächsten Flussquerung fährt man fast zwei Stunden, langsam, über Schlaglöcher, parallel zur Front.
Ein Soldat, der sich "Apostol" nennt, erzählt, schon der erste Tag im Schützengraben habe mit acht Sturmangriffen begonnen. Jeden Tag gebe es mehrere Angriffswellen, zwei Monate lang ohne Pause. Die Gegner hätten kolossale Verluste, aber auch bei ihnen gebe es viele Gefallene.
"Unser Bataillon steht wie eine Steinwand"
Russland hat mehr Menschen und mehr Waffen. Laut westlichen Geheimdiensten rekrutiert Russland jeden Monat um die 30.000 neue Soldaten. Viele von ihnen kommen bald an die Front, oft in den sicheren Tod. Eine Taktik, die die ukrainischen Soldaten zermürben soll.
Schon länger laufe hier die russische Offensive, sagt "Panas" aus dem Stab: "Sie wollten hier schnell durchbrechen, aber das hat nicht geklappt. Sie sind hartnäckig. Aber unser Bataillon steht wie eine Steinwand. Wir haben sehr viele Menschen verloren, aber sie sind nicht durchgekommen. Wir sind die letzte Bastion vor Kupjansk."
Von der anderen Flussseite sind es keine zwei Autostunden nach Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Also lautet der Befehl: die Front halten.
Der größte Mangel: Soldaten
Ohne westliche Unterstützung könnten sie nicht durchhalten, sagen die Soldaten. Aber hier bei ihnen komme sie nur schleppend an. Man habe das zur Verfügung, was man vor einem halben Jahr bekommen hat, sagt "Panas". Das heißt, es fehlt praktisch an allem.
Vor allem mangelt es aber an Soldaten. Lange hatte die ukrainische Regierung gezögert, bis sie im Mai ein neues Gesetz zur Mobilisierung von neuen Soldaten verabschiedete. Doch die müssen erst eingezogen und ausgebildet werden. Deswegen gibt es kaum Rotation, deswegen müssen die Infanteristen zwei Monate lang im Schützengraben ausharren.
"Es gibt einfach keinen Ausweg"
Die Soldaten sind müde und ausgezehrt, aber sie lachen viel. "Wir haben keine Wahl. Wir müssen durchhalten. Für viele hier ist es nicht nur ein Befehl, sondern eine moralische Frage. Die meisten sind hier, weil sie ihre Heimat und ihre Familien verteidigen", sagt einer, der hier nur der "Mechaniker" genannt wird. Das war sein Beruf bis vor zwei Jahren, vor seinem Leben in der Armee.
Auch wenn kein Ende in Sicht ist, den Krieg "einfrieren", wie manche Politiker es fordern, wollen die Soldaten hier nicht. Auch "Panas" nicht: "Es ist die einzige Chance der Ukraine, zu überleben. Das sage ich nicht, weil ich unsere Regierung unterstütze. Es gibt einfach keinen Ausweg. Wenn man jetzt die Kriegshandlungen einfrieren würde, dann wird es eine Atempause für den Feind. Die Idee des Imperiums hat ihnen noch keiner ausgetrieben."
In Kupjansk-Vuzlovyi erholen sich diese Soldaten für ein paar Tage von den Kämpfen. Doch aufgeben kommt für sie nicht in Frage.
"Unter einer Diktatur werden wir nicht leben"
Seine Kameraden sehen es ähnlich. Die russischen Soldaten, sagen sie, kämpften nur für Kopeken. Und sie selbst? "Wir haben wie Menschen gelebt, wie einfache Menschen. Wir wollen, dass es wieder so wird wie es war", sagt "Apostol". Ein anderer fällt ihm ins Wort: "Unter einer Diktatur werden wir nicht leben. Wir sind freie Menschen. Schon immer haben die Ukrainer um ihre Freiheit gekämpft."
Wie lange sie im Osten noch kämpfen werden, weiß niemand. Fragen, auf die man keinen Einfluss hat, rauben Energie, die man zum Überleben braucht. In Kupjansk-Vuzlovyi freuen sich die Soldaten nun auf ein richtiges Bett, Duschen und das Schaschlik am Abend.