Wahl im EU-Parlament Nur eine Chance für von der Leyen
Am Vormittag stellt sich EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im Parlament zur Wiederwahl. Für die Abstimmung gibt es nur einen Versuch. Die Chancen sind gut, doch Gewissheit gibt es nicht.
Dafür oder nicht? Auf diese einfache Frage verdichtet sich die oft unübersichtliche Welt der Europäischen Union. Es gibt exakt zwei mögliche Antworten: Für Ursula von Leyen oder nicht? Zweite Amtszeit oder nicht? Schrott oder Pott?
720 Abgeordnete stehen vor einem Wahlgang, der nicht nur über die politische Karriere der ersten Frau an der Spitze der EU-Kommission entscheidet. Ein Scheitern der einzigen Bewerberin würde die Europäische Union in erhebliche Turbulenzen steuern.
Von der Leyen braucht eine absolute Mehrheit der Stimmen. Es sollte komfortabel reichen, lautet die einhellige Einschätzung auf den Fluren des Straßburger Europaparlamentes. Aber mit letzter Gewissheit kann das niemand vorhersagen - nicht einmal Politiker, die im innersten Zirkel an den Verhandlungen beteiligt sind.
Auf von der Leyens Rede kommt es an
Gegen 9 Uhr rückt die Entscheidung näher. Zwei Dokumente spielen bei der Meinungsbildung eine zentrale Rolle. Das erste ist das Redemanuskript, mit dem die Amtsinhaberin ans Pult gehen wird. Es soll eine Rede werden, die vereint und nicht spaltet, ist zu hören. Zweitens hat das Team von der Leyen politische Leitlinien zusammengestellt, eine schriftliche Übersicht ihrer politischen Pläne. Der Text soll widerspiegeln, was sie sich für die kommenden fünf Jahre vorgenommen hat, welche Vorhaben sie umsetzen will.
Es werde nur noch an Kleinigkeiten gearbeitet, hieß es am späten Abend aus Kommissionskreisen. Die Leitlinien sollen eine Stunde vor Redebeginn bei den Abgeordneten ankommen. Der Text hat nicht die Detailtiefe eines Koalitionsvertrages, wie man ihn zum Beispiel aus Deutschland kennt. Und doch muss er die richtigen Signale an die Abgeordneten senden, die sich eine Unterstützung vorstellen können. Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale verstehen sich als eine Art Plattform. Eine formelle Koalition ist das jedoch nicht.
Wie geht es mit Ungarn weiter?
Eine Erwartung an von der Leyen ist konsequentes Handeln, wenn in einem EU-Mitgliedsstaat der Rechtsstaat in Gefahr scheint. In den Blick gerät dabei regelmäßig Ungarn. In dieser Woche hatte die EU-Kommission entschieden, dass sie die ungarische Ratspräsidentschaft wegen der Reisen von Viktor Orban nach Moskau und Peking teilweise boykottiert.
Zu den informellen Ministertreffen in Budapest sollen nicht Kommissare, sondern Beamten fahren. Der FDP-Abgeordnete Moritz Körner nennt das einen symbolischen, aber auch richtigen Schritt. Er ergänzt jedoch: "Wenn Frau von der Leyen in dieser Woche nicht im Europäischen Parlament gewählt werden müsste, dann würde es vielleicht einen solchen mutigen Schritt nicht geben."
Grüne pochen auf den Klimaschutz
Auch die Grünen haben unübersehbar zu erkennen gegeben, dass von der Leyen mit zumindest einem Teil ihrer Stimmen rechnen kann. Aber der Green Deal, das EU-Klimaschutzprogramm, dürfe nicht zurückgedreht, sondern müsse ausgebaut werden, sagte der grüne Abgeordnete und klimapolitische Sprecher Michael Bloss dem ARD-Studio Brüssel: "Ganz konkret bedeutet das, dass man für das Jahr 2040 ein Klimaziel von 90 Prozent Kohlendioxid-Reduktion vorschlägt, wie es die Wissenschaft auch fordert."
Ein solches Ziel hatte bereits 2023 Wopke Hoekstra, nachgerückter EU-Klimakommissar, genannt. Die Grünen wollen es aber von der Kommissionschefin selbst hören.
Von der Leyen wirbt für sich
Mit der Rede im Plenum und den begleitenden Leitlinien kommt die Mission Wiederwahl an einen entscheidenden Punkt. Von der Leyen setzte auch in dieser Woche ihre Zeit ein, um Vertrauen bei möglichen Unterstützern aufzubauen. Sie stand im engen Austausch mit den Parteien, die sich als politische Mitte verstehen. Sie hat darüber hinaus sowohl die Linken besucht, als auch die Rechtsaußen-Fraktion EKR, zu der die Fratelli d´Italia von Giorgia Meloni gehören. Gegen Ja-Stimmen aus diesem Lager könnte sich von der Leyen nicht wehren. Die Wahl läuft geheim ab.
Deswegen sind Prognosen über den Wahlausgang immer mit Unsicherheit verbunden. Da können die Fraktionen im Parlament noch so viele Probeabstimmungen machen. Niemand kann garantieren, dass dabei alle ihre wahre Wahlabsicht kundtun. Mit einem Restrisiko muss von der Leyen leben.
BSW will Wahl verschieben
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) will den Wahlgang verschieben lassen. Die Nachrichtenagentur dpa berichtet über einen entsprechenden Brief an Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. Grund sei der Umgang der EU-Kommission mit Informationen zu Corona-Impfstoffverträgen.
Das Gericht der Europäischen Union hatte gestern geurteilt, dass mit der Geheimhaltung von Informationen zu den milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen gegen EU-Recht verstoßen wurde. Gegen das Urteil kann noch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgegangen werden. Vor der Abstimmung über von der Leyen, müssten erst zurückgehaltene Dokumente offengelegt werden, so das BSW.
Dass diese geforderte Verschiebung jedoch im EU-Parlament die nötige Mehrheit bekommt, gilt als äußerst unwahrscheinlich. Und so dürfte von der Leyen am Morgen wohl wie geplant ans Rednerpult treten. Es gibt nur einen Versuch. Diese Rede muss sitzen.