
Das EU-Weißbuch zur Verteidigung Orientierungshilfe mit düsterem Grundton
Das neue EU-Weißbuch wird Russland nicht in Angst und Schrecken versetzen - das weiß man auch in Brüssel. Aber das Papier soll eine Richtung in der neuen EU-Verteidigungspolitik aufzeigen. Die Grundhaltung ist düster.
"Wir harmonisieren unsere Planung, Beschaffung und Einsatzfähigkeit": Ursula von der Leyen steht im dunklen Hosenanzug am Rednerpult. Immer wieder unterstützen ihre Hände das Gesagte, als sie über verstärkte Verteidigungsanstrengungen der Europäer spricht: "Dadurch entstehen neue, gemeinsame europäische Fähigkeiten."
Es ist Februar 2019. Die zu diesem Zeitpunkt Noch-Verteidigungsministerin von Deutschland spricht auf der Münchener Sicherheitskonferenz. Gut sechs Jahre ist das nun her. Und die Diskussionen über Europas Verteidigungsfähigkeit sind noch älter. Doch sie werden in diesen Tagen vor einer düsteren Kulisse diskutiert. Einer Kriegskulisse.
Wenig Zeit für Diskussionen
Die EU hat jetzt einen Verteidigungskommissar. Es ist der Litauer Andrius Kubilius. Am Vormittag steht er neben der Außenbeauftragten Kaja Kallas in Brüssel am Redepult und präsentiert eine Aufrüstungsstrategie, eine Diskussionsgrundlage. Wobei: Übermäßig viel Zeit zum Diskutieren hat die Europäische Union nicht.

Andrius Kubilius und Kaja Kallas präsentieren eine Aufrüstungsstrategie.
Am Vortag hatte von der Leyen, Kubilius' Chefin, in Kopenhagen eine Grundsatzrede gehalten: "Wenn Europa Krieg vermeiden will, muss es bereit sein für Krieg." Oder: "Wir können es uns nicht leisten, von der Geschichte herumgeschubst zu werden."
Das ist die Grundtonart: Es bleibt düster, selbst wenn man die bei von der Leyen übliche Dosis Pathos abzieht.
Hilfe bei der Orientierung
Was also tun? Das Weißbuch, ein 20-Seiten-Dokument, will Orientierung geben. Beispiel: militärische Fähigkeitslücken. Diese sollen in sieben Schlüsselbereichen geschlossen werden, unter anderem Luftverteidigung und Raketenabwehr, aber auch Artilleriesysteme, Drohnen und militärische Transportkapazitäten.
Dabei sollen die EU-Staaten beim Kauf eng kooperieren und mindestens 40 Prozent der benötigten Güter gemeinsam bestellen. Das sei das "effizienteste Mittel" zur Beschaffung großer Mengen von "Verbrauchsgütern" wie Munition, Raketen und Drohnen, so die Kommission im Strategiepapier.
Gemeinsame Beschaffung sei aber auch entscheidend für die Umsetzung komplexerer Projekte. Das senke die Kosten und signalisiere der Rüstungsindustrie, dass es eine dauerhafte Nachfrage gebe.
Außerdem sollen Auflagen und Vorschriften für die Rüstungsindustrie gelockert werden. Bürokratieabbau auch hier. Zu Gute kommen soll das alles kurzfristig vor allem auch der Ukraine. Man wolle "für und mit der Ukraine" produzieren, sagt der Verteidigungskommissar.
Kommt genügend Geld zusammen?
Die Aufrüstung kostet. Die Finanzierungsideen hatte die Kommission bereits präsentiert. Bis zu 800 Milliarden Euro will man mobilisieren. Es gibt jedoch durchaus Skepsis, ob diese Summe wirklich zusammenkommt. Sind die Mitgliedstaaten wirklich bereit, die erweiterten Möglichkeiten zur Kreditaufnahme voll auszunutzen?
Überhaupt: Jetzt gehe es um "Umsetzung, Umsetzung, Umsetzung" sagt der Litauer Kubilius: "Putin wird nicht abgeschreckt sein, wenn wir ihm das Weißbuch vorlesen." Und bei der Umsetzung sind vor allem die EU-Mitgliedstaaten gefragt. Die Kompetenzen für Verteidigung liegen weitestgehend in den Hauptstädten der Europäischen Union.
Und so signalisiert die EU-Kommission an vielen Stellen des Papiers: Wir unterstützen gerne, wo wir können - und dürfen. Aber das Steuerrad ist in Euren Händen.
Kallas muss zurückstecken
Das bekam jetzt auch die EU-Außenbeauftragte Kallas zu spüren. Sie wollte die Mitgliedstaaten dazu bewegen, der Ukraine für dieses Jahr bis zu 40 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Das Ziel ist geschrumpft. Jetzt spricht sie über zwei Millionen Artilleriegranaten für etwa fünf Milliarden Euro.
Ein wichtiger Prüfstein ist, wie gut die gemeinsame Beschaffung von militärischen Gütern und auch die gemeinsame Entwicklung von Rüstungsprojekten gelingt. Kampfjets, Hubschrauber, Panzer - das sind komplexe Produkte. Es gibt für solche Projekte keine Warenhäuser, aus denen man schnell etwas aus dem Regal holt. Und: Fast immer spielen auch nationale Interessen eine Rolle. Wessen Rüstungsunternehmen profitieren? Dabei geht es um Prestige, aber auch um Arbeitsplätze.
Zielmarke 2030
Selbst wenn es in einer früheren Version des Papier deutlicher aufgeschrieben war: Ziel der EU ist auch, sich von den USA unabhängiger zu machen. Eine dauerhafte Trennung sei nicht vorgesehen, heißt es von der EU-Kommission, gleichzeitig sagt von der Leyen: "Die Sicherheitsarchitektur, auf die wir uns verlassen haben, dürfen wir nicht mehr für selbstverständlich nehmen."
Maria Mertisiute vom Forschungsinstitut European Policy Centre nennt das Weißbuch im Gespräch mit der ARD einen "lang erwarteten und dringend nötigen" Schritt. Sie sagt aber auch: "Seien wir realistisch: Selbst wenn wir jetzt eine Billion Euro hätten, würden wir die Ergebnisse erst in den kommenden Jahren sehen."
Bis 2030 will die Kommission Europa wiederaufrüsten und eine glaubwürdige Abschreckung entwickeln. Dann, so befürchten manche, könne Russland seine kriegerischen Ambitionen auch über die Ukraine hinaus erweitern. Im schlimmsten Fall.
Das ist der Sound dieser Tage. Er ist düster.
In einer früheren Version der Meldung wurde von zwei Millionen Artilleriegeschützen für die Ukraine geschrieben, gesprochen hatte Frau Kallas aber von zwei Millionen Artilleriegranaten.
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