Orban brüskiert Partner Kann Ungarn der EU-Ratsvorsitz entzogen werden?
Ungarns Ministerpräsident Orban sorgt mit seiner Reisetätigkeit für dicke Luft in der EU. Dabei hatte das EU-Parlament schon vor einem Jahr vor der EU-Ratspräsidentschaft Ungarns gewarnt. Kann Ungarn der Ratsvorsitz wieder genommen werden?
Sind Viktor Orbans Tage auf dem prestigeträchtigen Posten gezählt, nachdem Ungarn erst am 1. Juli den alle halbe Jahre wechselnden EU-Ratsvorsitz übernommen hat?
Orbans intensive Reisetätigkeit seit Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli sorgt für Empörung in der EU - zunächst der Besuch bei Russlands Präsident Wladimir Putin, dann die Reise nach Peking zu einem Treffen mit Staatspräsident Xi Jinping. Und schließlich verließ Orban den NATO-Gipfel in Washington früher, um sich mit Ex-US-Präsident Donald Trump zu treffen.
Vielen EU-Regierungen platzt langsam der Kragen. Orban mache sich zum willfährigen Werkzeug des Diktators im Kreml, schrieb der polnische Premierminister Donald Tusk auf dem Kurznachrichtendienst X in ungewohnter Deutlichkeit. Der ungarische Ministerpräsident scheint sich vor Konsequenzen sicher zu fühlen - doch damit könnte er falsch liegen.
Frühe Warnungen
Das Europaparlament hatte schon vor mehr als einem Jahr in einer Resolution davor gewarnt, Orban diesen Posten zu geben. Ungarn sei nicht in der Lage, diese Aufgabe "in glaubwürdiger Weise" zu erfüllen, hieß es in der Entschließung.
"Das wäre so, als wenn man den Schulhofschläger zum Schuldirektor macht", warnte damals der FDP-Europpaabgeordnete Moritz Körner. Die Resolution wurde mit 442 Stimmen angenommen, 144 Abgeordnete waren dagegen, 33 enthielten sich.
Die EU-Mitgliedstaaten wurden aufgefordert, so bald wie möglich eine "geeignete Lösung" zu finden - es passierte aber nichts, denn die Resolution war nicht bindend.
"So eine Ratspräsidentschaft hat die EU noch nicht gesehen"
Heute fühlen sich die Parlamentarier in ihrer Sichtweise bestätigt. "Man sollte Viktor Orban die Ratspräsidentschaft entziehen. Eigentlich hätte er sie gar nicht erst antreten sollen", sagt der Europaparlamentarier Daniel Freund von den Grünen, einer der schärfsten Orban-Kritiker.
So eine Ratspräsidentschaft habe die EU noch nicht gesehen, stellt Freund fest - ein Land, dem wegen "zig Rechtsstaatsverstößen und Korruption ein Großteil der EU-Gelder eingefroren wurden, sollte nicht für die gesamte EU sprechen und schon gar nicht in dieser Weise in Moskau und Peking auftreten".
Zwei Modelle gegen Orban
Es gäbe zwei Möglichkeiten, diesen Fehler zu beheben: Die EU könnte Kriterien einführen, die ein Land erfüllen muss, damit es die Ratspräsidentschaft übernehmen kann. Teil dieser Kriterien könnte sein, dass ein Land, gegen das ein Grundwerteverletzungsverfahren läuft und dem die EU-Kommission Gelder wegen Rechtsstaatsverstößen vorenthält, diese Position nicht übernehmen darf. So lautet eine Idee, die in diesen Tagen in Brüssel kursiert.
Eine Alternative, die auch in Parlamentsfraktionen zu hören ist: Man könnte den Startzeitpunkt der nächsten Ratspräsidentschaft vorziehen. Das würde bedeuten, dass Polen zum Beispiel schon im Dezember diese Funktion übernehmen würde.
"Der Schaden, den Orban schon in den ersten Wochen seiner Ratspräsidentschaft angerichtet hat, darf nicht ungestraft weitergehen", fordern Freund und andere Europaparlamentarier.
Verstoß gegen das Prinzip der Loyalität
Die entscheidende Frage lautet: Kann man Orban von seinem EU-Posten entfernen oder ihn anders in die Schranken weisen? Daniel Hegedüs, Zentral- und Osteuropa-Experte bei der Denkfabrik "German Marshall Fund" in Berlin, hält das für möglich. Orban sei verpflichtet, loyal und solidarisch zu agieren, habe dieses Prinzip aber zerstört.
Als Ratsvorsitzender habe er auch keine außenpolitischen Kompetenzen. Zwar habe Orban in einem Brief an die EU-Regierungschefinnen und -chefs versichert, er sei in Moskau und Peking nicht im Auftrag der EU unterwegs gewesen. Aber, so Hegedüs, er sei stets als offizieller EU-Vertreter wahrgenommen worden und habe sich dessen auch bewusst sein müssen: "Nicht nur ein Entzug der Ratspräsidentschaft, auch ein Entzug der Stimmrechte ist überfällig und auch möglich", konstatiert der Wissenschaftler.
Er wirft Orban vor, er habe "die Ratspräsidentschaft mit unangekündigten Reisen missbraucht, um die gemeinsamen Positionen der europäischen Außenpolitik zu untergraben und die Position des Kremls aus der Position der Ratspräsidentschaft irreführend zu wiederholen und auch zu vertreten". Hegedüs plädiert für eine schnellstmögliche Suspendierung der ungarischen Ratspräsidentschaft "aus Gründen der politischen Selbstverteidigung der EU".
Und rechnet vor: Die Ratspräsidentschaft könnte mit einer verstärkten qualifizierten Mehrheit suspendiert und der Zeitplan der Ratspräsidentschaft verändert werden. 20 der 27 EU-Regierungen müssten zustimmen, die zusammen 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Außerdem sollte Ungarn "eindeutig verurteilt" werden, und zwar nach Artikel 7 des EU-Vertrages.
Das Artikel-7-Verfahren ist die schärfste Sanktionsmaßnahme der EU gegen ein Mitgliedsland und kann am Ende zu einem Entzug der Stimmrechte führen.
Erste Maßnahmen
Viele EU-Diplomaten sind aber skeptisch, und die EU-Regierungen scheinen vor einem Entzug der Ratspräsidentschaft zurückzuschrecken. Bei ihrem letzten Treffen machten die EU-Botschafter ihrem Ärger über Orban zwar Luft. Aber ein "Entzug" der Ratspräsidentschaft sei nicht auf der Tagesordnung gewesen und auch in Zukunft kein Thema", erklärte danach Ungarns Europaminister Janos Boka.
Einzelne Staaten ergreifen aber demonstrative Maßnahmen. Litauen kündigte an, "vorübergehend" keine Ministerinnen und Minister zu EU-Treffen nach Ungarn zu schicken, die während der ungarischen Ratspräsidentschaft abgehalten werden sollen. Die Regierung behielt sich aber vor, weniger hoch angesiedelte Vertreter zu schicken. Das soll für die informellen Ministertreffen gelten, die Ungarn in Budapest abhalten will.
Auch Schweden kündigte an, keine Ministerinnen und Minister nach Budapest zu schicken, Estland, Lettland und weitere EU-Regierungen wollen folgen, nannten aber noch keine Einzelheiten.
"Großer Flurschaden"
Auch in Berlin wird über Konsequenzen nachgedacht. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erklärte, die ungarische Regierung habe offizielle Videos über die umstrittenen Reisen mit dem Logo der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft versehen. Orban habe keinen Auftrag, für die EU zu sprechen: "Wir sind schon am Tag 12 der Ratspräsidentschaft, und sie hat schon einen großen Flurschaden hinterlassen", erklärte der Sprecher - und verwies auf die "theoretische" Möglichkeit, Ungarn die Ratspräsidentschaft wegzunehmen. Dazu gebe es aber keine Pläne.
Im kommenden Monat sollen in Ungarn Beratungen der EU-Außenminister stattfinden. Es könnte sein, dass es ein Treffen ohne ausländische Minister wird.