Wahl in Großbritannien Die wirtschaftlichen Herausforderungen sind groß
Die britische Wirtschaft ist vor der Wahl wieder gewachsen. Und doch sind die Belastungen der vergangenen Jahre noch nicht überwunden - die nächste Regierung steht vor großen Aufgaben.
Es klingt wie der Befreiungsschlag für die britische Wirtschaft: Gegenüber dem Vorquartal ist die britische Wirtschaftsleistung (BIP) zu Jahresbeginn um 0,7 Prozent gestiegen. Das teilte das Statistikamt ONS mit. Das ist das höchste Wirtschaftswachstum seit 2021. Und damit steht die britische Wirtschaft auch im Vergleich zu den anderen G7-Staaten ziemlich gut da - nur die US-amerikanische Wirtschaft hat mit einem Plus von 1,4 Prozent im Vergleich zum Vorquartal ein höheres Wachstum verzeichnet.
Doch nicht nur das Wachstum lässt hoffen, dass sich die Wirtschaft nun langsam erholt, die positiven Nachrichten aus der britischen Wirtschaft häuften sich zuletzt: Nach ihrem Höhenflug fiel die Inflation in Großbritannien zuletzt spürbar: Die Verbraucherpreise erhöhten sich im April zum Vorjahresmonat nur noch um 2,3 Prozent, nach 3,2 Prozent im März, teilte das Statistikamt ONS mit. Das ist die niedrigste Rate seit Juli 2021. Von Reuters befragte Experten hatten aber mit einem noch stärkeren Rückgang auf 2,1 Prozent gerechnet.
Eingetrübte Stimmung in britischer Industrie
Und doch: Die britische Wirtschaft kämpft noch immer mit den Nachwehen der vergangenen Jahre. In der Industrie etwa hat sich die Stimmung im Juni unerwartet wieder eingetrübt. Der Einkaufsmanagerindex fiel um 0,3 Punkte auf 50,9 Punkte, wie das Marktforschungsunternehmen S&P Global jüngst nach einer zweiten Schätzung mitteilte. Damit liegt der Wert zwar noch immer über der Schwelle von 50 Punkten und deutet damit auf Wachstum hin.
"Das verarbeitende Gewerbe im Vereinigten Königreich erlebt die stärkste Wachstumsphase seit mehr als zwei Jahren", schrieb Rob Dobson, Direktor bei S&P Global Market. Doch die anhaltend schwache Exportleistung, bei der die Hersteller über Schwierigkeiten bei der Gewinnung neuer Aufträge auf mehreren Schlüsselmärkten wie den USA, China und dem europäischen Festland berichteten, bleibt weiter besorgniserregend.
Schuldenquote fast bei 100 Prozent
Ebenso besorgniserregend ist die hohe Staatsverschuldung: Zwei Wochen vor den Parlamentswahlen, bei denen den regierenden Tories das Aus droht, ist die britische Staatsverschuldung auf den höchsten Stand seit mehr als 60 Jahren gestiegen. Sie erreichte im Mai 2,742 Billionen Pfund (3,25 Billionen Euro), wie das Statistikamt ONS mitteilte. Die Schuldenquote, also die Schulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), beträgt damit 99,8 Prozent - das ist der höchste Wert seit 1961.
Und auch das Wachstum des BIPs pro Kopf zeigt, dass die britische Wirtschaft schwächelt: Das BIP pro Kopf drückt die Wirtschaftsleistung eines Landes in Bezug zu dessen Bevölkerung aus. Steigt der Wert dieses Indikators im Verlauf der Zeit, so steigen tendenziell auch die materiellen Möglichkeiten der Wohnbevölkerung dieses Landes.
Während in den USA dieser Wert zwischen 2007 und 2024 um rund 22 Prozent laut Daten des IWF gestiegen ist, ist das britischen BIP pro Kopf im gleichen Zeitraum nur um sechs Prozent gewachsen. Prognosen gehen davon aus, dass der Lebensstandard in Großbritannien voraussichtlich während der kommenden Legislaturperiode erstmals seit den 1950er-Jahren sinken wird.
Schuldenstand könnte Investitionen bremsen
All das sind Probleme, mit denen sich die nächste britische Regierung wird auseinandersetzen müssen. Vor allem der hohe Schuldenstand könnte dabei auf Dauer zum Problem werden. Auch das langsame Wirtschaftswachstum und der Anstieg der Zinssätze, die die Bank of England im Kampf gegen die Inflation auf ein 16-Jahres-Hoch getrieben hat, belasten den Staatshaushalt. Denn beide in Großbritannien zur Wahl antretenden Parteien versprechen, weder die Einkommensteuer noch die Mehrwertsteuer oder andere wichtige Abgaben zu erhöhen.
Das alles macht öffentliche Investitionen schwieriger - obwohl die nötig wären: "Mehr Investitionen in Wohnungsbau, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit würden dazu beitragen, einige der Schwächen in Stärken umzuwandeln", sagte Paul Dales, Ökonom beim Forschungsunternehmen Capital Economics, jüngst der Financial Times.
Investitionen sind nötig
Vor allem im Gesundheitssystem wären Investitionen dringend nötig: In den vergangenen 13 Jahren hat die konservative Regierung die Ausgaben für den Gesundheitsdienst deutlich zurückgefahren, selbst Experten sagen: Die Regierung hat den NHS kaputtgespart. Immer wieder kam es deshalb in den vergangenen Monaten zu Ärztestreiks - zuletzt legten Assistenzärzte Ende Juni die Arbeit nieder.
Auch auf dem Wohnungsmarkt bräuchte es dringend Investitionen: Der britische Wohnungsmarkt bietet nach Erkenntnissen der Denkfabrik Resolution Foundation das schlechteste Preis-Leistungs-Verhältnis aller vergleichbaren Volkswirtschaften. Die Labour Partei, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Wahl gewinnen wird, hat deshalb nun angekündigt, man wolle in der nächsten Regierungszeit bis zu 1,5 Millionen neue Wohnungen bauen. Unklar ist die Finanzierung.
Mit Informationen von Lilli-Marie Hiltscher, ARD-Finanzredaktion