Christine Lagarde
analyse

Weiterer Kurs der EZB Machtlos gegen die hartnäckig hohe Inflation?

Stand: 13.09.2023 19:04 Uhr

Die Inflation bleibt viel zu hoch. Ob die EZB die Zinsen weiter erhöht, ist unklar. Kritiker geben den Geldpolitikern ohnehin keine Chance mehr: Die aktuelle Teuerung sei mit ihren Mitteln nicht zu bändigen.

Langsam neigt sich der Sommer dem Ende zu. Die rund 3.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank (EZB) sind zurück im Eurotower am Main. Das spektakuläre Gebäude aus Glas und Stahl war in den vergangenen Wochen geschlossen. Unter enormen Zeitdruck mussten große Teile der Elektrik erneuert werden.

Aus der Führungsetage - auch im Homeoffice oder im Urlaub - war wenig zu hören. Präsidentin Christine Lagarde vermied es, umstrittene Interviews in Frauenzeitschriften zu geben, wie im Juli vergangenen Jahres dem französischen Magazin "Madame Figaro". Auch die meisten Ratsmitglieder hielten sich mit Äußerungen zurück.

Wieder steigende Teuerung in Frankreich

Hinter den Kulissen wurde allerdings hart gearbeitet. Diese Woche veröffentlicht die EZB ihre neue Inflationsprognose. Die könnte es in sich haben. Denn bislang zeigt sich die hartnäckige Teuerung widerspenstig und schwächt sich nicht so ab wie gewünscht. Im August betrug die Inflationsrate im Euroraum 5,3 Prozent, unverändert zum Vormonat. In Deutschland lag sie nach europäischer Berechnung mit 6,4 Prozent noch höher und ist im Vergleich zum Juli nur um magere 0,1 Prozentpunkte zurückgegangen.

In Frankreich, Österreich und Kroatien legte die Inflation zum Teil wieder deutlich zu - und besonders heftig ist sie weiterhin in der Slowakei mit 9,6 Prozent. Auch in Spanien, lange Musterland bei der Bekämpfung der Teuerung, zog die Inflationsrate von 1,6 Prozent im Juni auf jetzt 2,4 Prozent an.

Gräben im EZB-Rat reißen wieder auf

"Wir werden der Inflation das Rückgrat brechen", versprach EZB-Präsidentin Lagarde nach der vergangenen Ratssitzung im Juli. Auch bei einem ihrer wenigen Auftritte im Sommer, auf der Notenbankkonferenz im amerikanischen Jackson Hole, fand sie deutliche Worte: "Der Kampf gegen die Inflation ist noch nicht gewonnen." Man müsse die Zinssätze so lange "restriktiv halten", bis das Inflationsziel von zwei Prozent wieder erreicht sei, so die EZB-Präsidentin.

Doch die markigen Worte hinterlassen bei vielen Volkswirten und großen Teilen des Finanzmarktes wenig Eindruck: eine knappe Mehrheit dort ist sogar der Auffassung, dass die EZB diese Woche bei den Leitzinsen eine Pause einlegen, also nicht weiter erhöhen wird, so das Ergebnis einer Umfrage der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Denn die alten Gräben im EZB-Rat reißen wieder auf: Die Hardliner, also etwa die Notenbankchefs aus Deutschland und Österreich, sehen noch kein Ende des Zinszyklus. Aus den Niederlanden, sonst auch eher im Lager der sogenannten "Falken" - also den Anhängern einer strikteren Geldpolitik -, hört man vorsichtige Töne. Dort ist die Inflationsrate allerdings auch deutlich gefallen. In Portugal tritt man schon seit Monaten auf die Bremse und findet dafür zunehmend Unterstützung in Italien und Griechenland.

Krise im Bau und hohe Ölpreise

Diese Länder verweisen auf die schwache Konjunktur, die durch die neun Zinsanhebungen weiter geschwächt werde. Tatsächlich haben sich Kredite stark verteuert und führen somit zu höheren Kosten für die Unternehmen, die sich deshalb zurückhalten. Die Kreditnachfrage ist auf den tiefsten Stand seit Bestehen der EZB gesunken. Besonders drastisch sind die Auswirkungen der Zinserhöhungen im Bausektor: Zahlreiche fest geplante Projekte sind nicht mehr finanzierbar und wurden eingestellt. Die Zahl der Bauanträge ging rapide zurück. Bei Projektentwicklern gibt es erste Insolvenzen. Insgesamt rutscht der Sektor immer mehr in die Krise.

Große Teile der Bevölkerung sehen allerdings nicht ein, warum sie die Zeche zahlen sollen, indem sie weiterhin besonders tief ins Portemonnaie greifen müssen. So gibt es insbesondere bei Nahrungsmitteln und Kraftstoffen keine Entspannung, teilweise steigen die Preise sogar wieder. Das liegt vor allem an den weiterhin hohen Notierungen am Ölmarkt. Dort sorgt insbesondere die OPEC+ mit Förderkürzungen für hohe Preise. Haupttreiber Saudi-Arabien wird dabei vor allem von Russland unterstützt. Moskau hat größtes Interesse an hohen Einnahmen, um damit den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu finanzieren.

Auf die Preise für Energie und Ernährung hat die Geldpolitik der EZB ohnehin keinen Einfluss, weil Zinserhöhungen dort nicht wirken. Die beiden Positionen werden deshalb gerne auch aus der Inflationsrate herausgerechnet. Dann bekommt man die sogenannte "Kerninflation". Aber auch die ist fast dreimal so hoch wie angestrebt.

Weniger globaler Wettbewerb als Kostenfaktor

Immer mehr rückt die Frage in den Mittelpunkt, ob die EZB mit ihren Mitteln überhaupt in der Lage ist, die Inflation wirkungsvoll zu bekämpfen. Nach Meinung einiger Experten haben sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Zuge von Corona-Krise und Ukraine-Krieg strukturell so verändert, dass klassische Geldpolitik kaum noch Wirkung zeigt. So hat etwa die fortschreitende De-Globalisierung zu einem Rückgang des internationalen Wettbewerbs geführt. Dadurch können Unternehmen höhere Preise durchsetzen. Außerdem bleiben Rohstoffe weiter knapp und teuer.

Die massiven Rüstungsausgaben der westlichen Länder zur Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen Russland halten die Inflation ebenfalls auf hohem Niveau. Denn das viele Geld wandert in den Kreislauf und facht die Teuerung an. Das gilt auch für die massiven Kosten für die Energiewende als Folge des Klimawandels. "Wir geben hunderte von Milliarden dafür aus und wir bekommen nicht Güter in den Korb hinein, sondern saubere Luft", sagt Hendrik Leber, geschäftsführender Gesellschafter der Kapitalverwaltungsgesellschaft Acatis Investment im Interview mit dem Deutschlandfunk. "Auch das treibt die Inflation."

Hinzu kommen die überall fehlenden Arbeitskräfte. Sie heizen die Teuerung an, denn Unternehmen müssen auch langfristig höhere Löhne zahlen, wenn sie Mitarbeiter halten wollen. Um die Inflation unter diesen Umständen in den Griff zu bekommen, müsste man die Zinsen auf zweistellige Raten anheben, sagen viele Experten. Doch das würde die EZB niemals machen. Hendrik Leber ist daher überzeugt, dass die Inflation nicht signifikant herunter geht: "Man kann die strukturellen Themen nicht beseitigen. Die Mittel der Notenbanken sind begrenzt." Das Wiedererreichen des Zwei-Prozent-Ziels sei illusorisch.

Ist das Inflationsziel überholt?

Dieser Meinung ist man auch in vielen Hochschulen und bei einigen Banken. Immer wieder kommt daher der Vorschlag, die EZB solle ihr Inflationsziel anpassen und auf drei Prozent aufstocken. Ansonsten sei das Scheitern vorprogrammiert. Der ökonomische Chefberater der italienischen Großbank UniCredit, Eric Nielsen, schlägt der EZB sogar einen Zielkorridor von drei bis vier Prozent vor. Bliebe es bei zwei Prozent, "dann funktioniert das nur, wenn sie der Wirtschaft dauerhafte Schmerzen - das heißt weniger reales Wachstum - zufügt", sagte er der "Börsenzeitung".

Doch ein Scheitern oder trickreiches Anpassen des jetzigen Inflationsziels kann sich die EZB eben gerade nicht leisten. Dazu hat sie der Bevölkerung zu deutlich und klar den Rückgang der Teuerung versprochen. Wenn Christine Lagarde nicht liefert, was sie angekündigt hat, dürfte das ohnehin angeschlagene Vertrauen in die Währungshüter weiter schwinden. Das könnte dann im schlimmsten Fall nicht der Inflation, sondern langfristig der EZB selbst zum Verhängnis werden.

All das ist den Ratsmitgliedern nur zu bewusst. Im wieder eröffneten Sitzungssaal im 43. Stock des Eurotowers dürfte es daher heftige Diskussionen geben. Gut, dass wenigstens die Technik wieder rund läuft.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 14. September 2023 um 10:00 Uhr.