Deutschlands Wirtschaft Teuer, bürokratisch, langsam
Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt Deutschlands wirtschaftliche Schwächen. Das Land leidet an Bürokratie, Fachkräftemangel und hohen Energiekosten. Für manche Firmen ist inzwischen sogar die Produktion in der Schweiz günstiger.
Die Schweiz ist in Deutschland vor allem bekannt für exklusive Uhren und Schokolade. Dass man im hochpreisigen Nachbarland plötzlich günstiger produzieren kann als hierzulande, hätte vor einigen Jahren wohl niemand für möglich gehalten. Nun überlegt der schwäbische Motorsägenhersteller Stihl, seine Produktion ausgerechnet dort auszubauen - und nicht in Deutschland.
Der Aufsichtsratsvorsitzende Nikolas Stihl erklärt im tagesschau-Interview, dass der Standort Schweiz trotz höherer Löhne niedrigere Gesamtkosten als Deutschland aufweise. Schuld seien höhere Abgaben, Steuern und Energiekosten hierzulande - die Produktion in der Schweiz sei inzwischen günstiger.
"Anlass zur Sorge"
Wirtschaftskrise allerorten: Deutsche Konzerne entlassen ihre Mitarbeiter zu Tausenden, der Traditionshersteller Miele verlegt Teile seiner Produktion nach Polen. Deutschland ist plötzlich wieder der "kranke Mann" Europas - in den Nachbarländern läuft es fast überall besser. Die Rechnung dafür gibt sich die Bundesregierung heute selbst auf 176 Seiten: Im Jahreswirtschaftsbericht kürzt die Bundesregierung ihre Wachstumsprognose für Deutschland von 1,3 auf 0,2 Prozent im laufenden Jahr.
Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen sieht "Anlass zur Sorge" und spricht von einer Konjunkturaussicht, die geprägt sei von der geopolitischen Krise. Gründe für die mauen Aussichten liegen laut Habeck auch an einem sich "historisch niedrig" entwickelnden Welthandel, dem Kaufkraftverlust durch Inflation sowie hohen Zinsen.
Den größten Handlungsbedarf sieht Habeck bei bürokratischen Hürden sowie dem Fachkräftemangel, der sich inzwischen nicht nur auf Fachkräfte beschränke. "Es fehlt an allen Ecken und Kanten", beschreibt er die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Die 700.000 offenen Stellen zu besetzen, hätte einen erheblichen Wachstumseffekt.
Die Regierung hat an Vertrauen verloren
Habeck räumt aber auch eine Teilschuld der Ampelregierung an den wirtschaftlichen Problemen des Landes ein. Wegen der vielen Streitigkeiten habe die Regierung an Vertrauen verloren. Der Präsident des Münchner ifo-Instituts, Clemens Fuest, sieht darin auch einen hausgemachten Grund für die wirtschaftliche Unsicherheit.
Es gibt jedoch auch Fortschritte zu vermelden: Die Exporte stiegen um 0,6 Prozent, nachdem sie im letzten Jahr noch um 1,8 Prozent zurückgegangen waren. Zudem rechnet die Bundesregierung mit einer deutlichen Abschwächung der Inflation von 2,8 Prozent. Im Vorjahr lag der Wert noch bei 5,9 Prozent.
Die Zahlen bedeuten eine Annäherung an die Normalität und könnten den Weg für Zinssenkungen im Sommer freimachen. Diese wiederum würden helfen, das Wachstum anzukurbeln.
International zurückgefallen
In die Reihen der Kritiker reiht sich auch Finanzminister Christian Lindner, FDP, bei der Regierungsbefragung im Bundestag ein - und attestiert Deutschland "eine zu geringe wirtschaftliche Dynamik." Der Standort Deutschland sei in allen internationalen Studien zurückgefallen. Die Regierung müsse sich nun strukturellen Problemen stellen.
So steht es auch im Jahreswirtschaftsbericht. Der umreißt zwar zehn Handlungsfelder zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit; Ökonomen kritisieren aber, dass der Bericht konkrete Maßnahmen schuldig bleibe. Eine bereits von Regierung und Bundestag beschlossene Maßnahme, das "Wachstumschancengesetz", wird derzeit im Bundesrat blockiert. Ifo-Chef Fuest lobt zwar, das Paket gehe in die richtige Richtung, sei aber "ein Tropfen auf den heißen Stein".
Stimmung wie nach dem Brexit
Steuersenkungen für Unternehmen und Bürger könnten Impulse setzen, derzeit streiten allerdings die Minister Habeck und Lindner über die Finanzierung: Habeck will ein Sondervermögen, Lindner keine neuen Schulden.
Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Jens Spahn, beschreibt die aktuelle Stimmung der deutschen Wirtschaft indes mit der Situation Großbritanniens nach dem Brexit und verweist auf einen Zwölf-Punkte-Plan, den seine Partei der Bundesregierung vergangene Woche vorgeschlagen hat. Er enthält eine Beschränkung der Sozialabgaben für Unternehmen, aber auch mehr Arbeitsanreize. Ökonom Fuest beklagt zudem, dass es sich heute für viele Menschen nicht mehr lohne, Vollzeit zu arbeiten - Sozial- und Steuersystem seien nicht richtig aufeinander abgestimmt.
Einig sind sich Bundesregierung und Experten, dass der Jahreswirtschaftsbericht nur ein Anfang sein kann, eine Art "Fundament", wie es Habeck nennt. Die Probleme sind beschrieben. Konkrete Lösungen bleibt die Bundesregierung bislang schuldig.