Bundesbank-Chef im Interview "Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas"
Es wird wieder Wirtschaftswachstum geben, sagt Bundesbankpräsident Nagel im Interview mit der ARD-Finanzredaktion. Was die Lage im Nahen Osten für wirtschaftliche Folgen hat - und wie das Inflationsziel erreicht werden soll.
ARD-Finanzredaktion: Die Lage im Nahen Osten ist wahnsinnig dynamisch, es sind katastrophale Zustände. Das hat auch viel mit Wirtschaft zu tun. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?
Joachim Nagel: Vor dem Hintergrund der dramatischen Dinge, die dort jeden Tag geschehen, fällt es manchmal schwer, eine wirtschaftliche Einordnung vorzunehmen. Aber der Zeitpunkt wird sicherlich kommen. Das müssen wir tun, um die wirtschaftlichen Implikationen abzuschätzen, inwieweit aus diesen geopolitischen Konflikten letztendlich auch Abstrahleffekte auf die Wirtschaft entstehen.
Eines ist aber klar: Unsicherheit in dieser Form ist meistens nicht gut für wirtschaftliche Prozesse und damit auch relativ schlecht für die Wachstumsperspektiven. Aber wie gesagt, es ist noch zu früh, um letztendlich abschließend ein ökonomisches Urteil treffen zu können.
Thema Energiesicherheit im Fokus
ARD-Finanzredaktion: Diese Region ist auch eine Region voller Rohstoffe - Katar wird hier immer wieder genannt. Auf der anderen Seite der Iran. Immer wieder gibt es Drohungen, die Straße von Hormus zuzumachen. Das hätte dramatische Auswirkungen, etwa auf die Energiepreise. Ist das eine Situation, mit der Sie sich als Bundesbank beschäftigen?
Nagel: Man muss sich über solche Dinge Gedanken machen. Man sollte vielleicht nicht zu viel darüber spekulieren. Aber es zeigt gerade beim Thema Energie einmal mehr, wie wichtig es ist, sich breit aufzustellen bei den Energieträgern. Diversifizierung ist hier ganz klar das, was notwendig ist, um sich auch in der Zukunft resilient wirtschaftlich aufzustellen.
Natürlich ist es so, dass wir als Geldpolitiker, als Notenbanken, auf solche Dinge schauen und uns Gedanken machen, wie man gegebenenfalls reagieren könnte. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Wenn es notwendig sein sollte, dann sind wir auch so aufgestellt, dass wir darauf reagieren könnten.
Joachim Nagel ist ein deutscher Volkswirt und seit dem 1. Januar 2022 Präsident der Deutschen Bundesbank. Damit ist er auch Mitglied im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB). Er gilt als ausgewiesener Finanzmarktexperte und war zuletzt bei der Bank für Internationalen Zahlungsverkehr (BIZ) tätig. Bereits zwischen 1999 und 2016 arbeitete Nagel für die Bundesbank, davon sechs Jahre als Vorstandsmitglied.
"Niemand ist frei von persönlicher Betroffenheit"
ARD-Finanzredaktion: Der 7. Oktober war eine Zäsur: der terroristische Angriff der Hamas auf Israel. Wie ist die Stimmung an so einem Tag, wenn man sich im Kreise der Notenbank-Kolleginnen und Kollegen trifft?
Nagel: Ich denke, niemand ist frei von einer persönlichen Betroffenheit, was die Terrorangriffe der Hamas betrifft und die Solidarität für Israel, für die Menschen, für die Opfer. Das kommt auch in so einer Sitzung zum Ausdruck. Und es ist auch wichtig. Aber am Ende müssen wir zu einem geldpolitischen Urteil kommen. Ich denke, wir haben mit den Entscheidungen der vergangenen zwei Jahre gezeigt, wie der EZB-Rat seiner Verantwortung, Preisstabilität herzustellen, am Ende gerecht geworden ist.
ARD-Finanzredaktion: Geldpolitik ist ein wichtiges Thema. Sie haben ein ganz wichtiges Werkzeug in der Hand. Dazu die Fiskalpolitik. Rutschen Sie in solchen Situationen bei aller Unabhängigkeit enger mit dem Staat zusammen?
Nagel: Die Geldpolitik hat ein eindeutiges Mandat: die Preisstabilität. Wir sind eine unabhängige Institution, und das ist auch richtig so. Das ist eine klare Trennlinie zwischen geldlicher Verantwortung und fiskalischer Verantwortung. Die Geldpolitik hat ihren Teil getan, und die Fiskalpolitik hat dazu beigetragen, dass sich die Situation in den letzten schwierigen 20 Monaten deutlich stabilisiert hat. An der Stelle kann ich sagen, dass diese Dichotomie, die Teilung dieser Zuständigkeiten, sehr gut funktioniert hat.
Zwei-Prozent-Ziel fest im Blick
ARD-Finanzredaktion: Wir sehen seit geraumer Zeit sinkende Inflationsraten. Auf der anderen Seite werden wir nun mehr für Sicherheit ausgeben müssen. Vielleicht produzieren wir auch wieder mehr zu Hause. All das sind Faktoren, die die Inflation wieder ansteigen lassen. Wie optimistisch sind Sie, dass wir das Ziel von zwei Prozent in absehbarer Zeit erreichen?
Nagel: Die wichtige Botschaft zunächst ist, dass die Inflation zurückgeht. Das heißt, dass die Geldpolitik wirkt, und das ist eine gute Botschaft. Wenn Sie sich noch daran erinnern können: Vergangenes Jahr hatten wir noch zweistellige Inflationsraten. Jetzt ist die Inflationsrate knapp unter drei Prozent gefallen. Die wichtige Kerninflationsrate - also bereinigt um Energie und Nahrungsmittelpreise - liegt immer noch über vier Prozent. Wir sind noch weg von unserem Zwei-Prozent-Ziel, aber die Richtung stimmt.
Die Geldpolitik wird weiter robust daran festhalten, die Inflation tatsächlich zu zwei Prozent zu führen. Es gibt nach wie vor Faktoren, die auch Aufwärtsrisiken darstellen. Sie haben auf einige hingewiesen, die natürlich auch wieder in engem Zusammenhang mit den geopolitischen Entwicklungen stehen. Was machen die Energiepreise im EZB-Rat? Wir haben uns dazu entschlossen, von Sitzung zu Sitzung neu zu entscheiden, auf einer neuen Datengrundlage. Und das ist in der gegenwärtigen Situation, die sehr von Unsicherheit geprägt ist, sicherlich der richtige Ansatz.
"Für 2024 stehen die Vorzeichen besser"
ARD-Finanzredaktion: Kommen wir zur Konjunktur. Deutschland ist ein reiches Land und das bevölkerungsstärkste in Europa. Und doch gibt es die ersten, die sagen: Es ist wieder der kranke Mann Europas. Wie kommt das?
Nagel: Diese Kassandrarufe kann ich sicherlich nicht teilen. Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas. Es ist sicherlich so, dass das Jahr 2023 hinsichtlich des Wirtschaftswachstums kein gutes Jahr ist. Aber es ist auch kein Jahr, in dem wir in einer harten Rezession unterwegs sein werden. Für 2024 stehen die Vorzeichen besser. Es wird wieder Wachstum geben.
Aktuell ist eine Phase, in der die Unsicherheit groß ist, die Zinsen steigen, und sich dadurch die Wirtschaft verlangsamt. Das ist Teil des Prozesses, um auch die Inflation zurückzuführen. Wir haben strukturelle Themen im Bereich der Demografie. Sicherlich haben wir einiges zu tun, wenn es um die Digitalisierung dieses Landes gehen. Aber ich würde es mal positiv formulieren: Für Deutschland gibt es auch Potenzial, wenn diese Themen angepackt werden, sodass mir da nicht bange ist um den Ausblick für die deutsche Wirtschaft in den nächsten Jahren.
Digitaler Euro bietet viele neue Möglichkeiten
ARD-Finanzredaktion: Jetzt gibt es noch ein Thema über das wir sprechen wollen: den digitalen Euro. Viele Banken und Zahlungsdienstleister fragen sich, warum er eigentlich kommen soll? Es gibt doch genügend digitale Möglichkeiten zu zahlen.
Nagel: Unsere ganze Welt wird digitaler. Die Wirtschaftswelt wird digitaler. Insofern ist es eigentlich nur nachvollziehbar und logisch, dass Notenbanken hierzu ein Zahlungsinstrument anbieten werden. In der Zukunft wird das der digitale Euro sein. Daraus werden für den Bürger, für die Bürgerinnen viele neue Opportunitäten entstehen. Beispielsweise wird nicht mehr die Frage sein, wenn sie irgendwo bezahlen: Mit welchem elektronischen Zahlungsmittel soll ich denn bezahlen? Nein, sie werden dann ein Zahlungsverkehrsinstrument haben, den digitalen Euro.
Auch die Händler müssen sich nicht mehr fragen, wohin sie sich orientieren, was die Zahlungsverkehrsdienstleister angeht. Und ich finde, das ist eine sehr große Erleichterung. Es wird schneller werden, und es wird günstiger werden. Und ich glaube schon, dass wir alle davon überzeugen können - auch die Banken, die manchmal so ein bisschen skeptisch darauf schauen. Auch die werden am Ende sagen: Das ist eine gute Entscheidung, wenn wir im Euro Raum mit einer digitalen Währung bezahlen können.
ARD-Finanzredaktion: Vielen herzlichen Dank, Bundesbankpräsident Nagel, für das Interview.
Das Gespräch führte Markus Gürne, ARD-Finanzredaktion.