Blick über die EZB auf die Frankfurter Skyline
analyse

EZB-Ratssitzung Die Inflation zeigt sich als "gieriges Biest"

Stand: 27.07.2023 06:22 Uhr

Die neunte Zinserhöhung der EZB gilt als sicher. Wie es dann weiter geht, ist unklar. Sorgen macht den Währungshütern die hartnäckige Kerninflation. Trotzdem warnen einige, die Zinsen nicht zu stark zu erhöhen.

Langsam senkt sich der rote Feuerball über den Brücken des sich dahin schlängelnden Main. Der Sonnenuntergang hinterlässt ein buntes Bild von violetten und pinkfarbenen Wolken, durchzogen vom azurblauen Himmel. Der Blick aus dem Eurotower der Europäischen Zentralbank im Osten von Frankfurt ist immer wieder ein Spektakel - und gerade im Sommer besonders reizvoll.

Doch die rund 3500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EZB müssen darauf jetzt erst einmal verzichten: Im August bleibt der Glaskoloss geschlossen.

Eurotower in der Reparaturpause

Nur acht Jahre nach der Eröffnung des Gebäudes sind Teile des Innenlebens der beiden ineinander verschränkten Türme schon marode. Genauer gesagt: Große Teile der Elektrik müssen überholt und erweitert werden. Weil das Problem so groß ist, dass es nicht an Wochenenden gelöst werden konnte, bleibt der Eurotower jetzt einen Monat komplett dicht. Zeit für Handwerker, Teile der kritischen Infrastruktur auszutauschen. Denn ohne Elektrik läuft bei der EZB gar nichts - etwa im Handel mit Wertpapieren, bei der Speicherung von Daten oder in der Kommunikation.

"Der heutige Zinsschritt weitgehend fest", Klaus-Rainer Jackisch, HR, zu Zinsentscheid der EZB

tagesschau24, 27.07.2023 09:00 Uhr

Das "dreidimensionale Zeichen für die Europäische Union", wie der österreichische Stararchitekt Wolf Dieter Prix sein Bauwerk bei der Eröffnung bezeichnete, das 1,2 Milliarden Euro verschlungen hat, wird also wieder zur Baustelle. Die Firma, die damals für die Elektroarbeiten verantwortlich war, ist mittlerweile pleite.

Eine weitere Erhöhung gilt als sicher

Heute allerdings trifft sich der EZB-Rat noch im Sitzungssaal in der 43. Etage. Trotz wackeliger Technik wird er dort mit größter Wahrscheinlichkeit erneut die Leitzinsen erhöhen - um voraussichtlich 0,25 Prozentpunkte auf dann 4,25 Prozent beim Hauptleitzinssatz.

Es wäre die neunte Zinserhöhung in rund einem Jahr. So schnell haben Europas Währungshüter die Zinsen noch nie in die Höhe schnellen lassen. Doch ein durchschlagender Erfolg ist ihre Aktion bislang nicht. 

Inflation hält sich hartnäckig

Zwar hat sich die Inflationsrate der Verbraucherpreise in den vergangenen Monaten gegenüber dem Höchststand von 10,9 Prozent im September deutlich abgeschwächt und in etwa halbiert. Doch die Kerninflation hält sich weiter hartnäckig hoch. Sie beträgt derzeit 5,5 Prozent und ist sogar leicht gestiegen.

Bei der Kerninflation werden die schwankungsanfälligen Preise für Energie und Nahrungsmittel herausgerechnet. Der Wert ist bedeutend, denn auf die Kerninflation haben Zinserhöhungen in normalen Zeiten direkten Einfluss. Umso mehr verwundert, dass der Effekt dieser Zinspolitik nicht größer ist. Das macht den Währungshütern große Sorgen, zeigt es doch, wie fest sich die Inflation in Europa gefressen hat.

Immer klarer wird, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die explodierten Energiepreise die Inflation zwar massiv angetrieben haben - der wahre Grund für den darunter liegenden Inflationsschub aber woanders zu finden ist. Denn die Energiepreise haben sich wieder deutlich verbilligt. In vielen Bereichen liegen sie derzeit auf dem Niveau von vor dem Krieg oder sogar darunter.

EZB hat die Deglobalisierung unterschätzt

Es müssen also - zumindest teilweise - strukturelle Probleme sein, die die Inflation weiter anfachen. Da liegt es nahe, dass insbesondere die Deglobalisierung einen wesentlich höheren Einfluss auf die Teuerung hat als bislang angenommen. Durch die Folgen der Corona-Pandemie hat der weltweite Handel einen schweren Schlag erhalten, von dem er sich bislang nicht ausreichend erholt hat.

Die stark gestiegenen politischen Spannungen weltweit verstärken diesen Trend. Die Deglobalisierung, ein von Anfang an von der EZB unterschätzter Faktor, führt zu weniger Handel, damit zu weniger Wettbewerb und damit wiederum zu weniger Preisdruck, also tendenziell steigenden Preisen.

Corona-Pandemie als Wendepunkt

In den Hochzeiten der Globalisierung hatten die Unternehmen einen guten Überblick über das Marktgeschehen und die Preisentwicklung in den Partnerländern. Diese hohe Transparenz ermöglichte es, die Preise zu drücken. Jetzt, da die Transparenz deutlich gesunken ist, ist dieser Vorteil weg. Die Preise steigen wieder.  

Als Lehre aus Corona-Zeiten haben Unternehmen ihre Lieferketten angepasst. Sie sind dadurch weniger abhängig von günstigen asiatischen Lieferungen und beziehen wieder mehr Vorprodukte aus Europa oder produzieren sie selbst. Das erhöht aber die Kosten, wie auch die gestiegene Lagerhaltung - alles Faktoren, die Preise hoch halten.

EZB kritisiert "Gierflation"

Hinzu kommt die "Gierflation", also die übertriebenen Preisaufschläge vieler Unternehmen, die aufgrund der Situation in diesem Ausmaß gar nicht notwendig wären. Selten hat eine Notenbank dieses Phänomen so heftig kritisiert wie die EZB.

Aber auch höhere Auflagen bei Umweltstandards und im Zuge der Nachhaltigkeit gibt es nicht kostenlos. Und schließlich gibt es auch erste Zweitrundeneffekte: Die hohen Lohnabschlüsse in vielen Ländern und Branchen führen zu einem heftigen Kostendruck, der die Preise weiter anfacht.

"Die Inflation ist ein gieriges Biest", hatte Bundesbank-Chef Joachim Nagel kürzlich gesagt und damit für eine weiterhin strikte Geldpolitik geworben. Denn der Kampf der EZB sei noch nicht beendet. Für die Ratssitzung in dieser Woche herrscht da weitgehend Einigkeit. Wie es allerdings im Herbst weiter geht, ist fraglich. Zum ersten Mal seit rund einem Jahr laufen die Meinungen im EZB-Rat wieder deutlich auseinander.

Falken und Tauben im EZB-Rat

Die Bundesbank etwa sieht kein Ende der Inflationsproblematik, spricht sich tendenziell für weitere Zinserhöhungen aus und sieht keine Gefahr eines Überreagierens. Unterstützt wird sie in dieser Haltung unter anderem von den Notenbanken in Österreich, den baltischen Staaten - insbesondere in Lettland -, aber auch in Belgien.

In den Niederlanden schlägt der sonst eher als geldpolitischer Falke bekannte Notenbankchef Klaas Knot hingegen vorsichtigere Töne an: Die Erhöhung im Juli sei eine "Notwendigkeit", eine weitere darüber hinaus sei "bestenfalls eine Möglichkeit, aber auf keinen Fall Gewissheit", so Knot mit Blick auf die Sitzung im September.

Abwartend zeigen sich auch Spanien, Frankreich, Kroatien und die Slowakei sowie EZB-Präsidentin Christine Lagarde, Vize-Präsident Luis de Guindos und EZB-Chefvolkswirt Philip R. Lane. Sie alle wollen erst einmal sehen, wie sich die Inflation in den nächsten Wochen weiterentwickelt und was für neue Daten die volkswirtschaftliche Abteilung der EZB im Herbst präsentiert.

Gespannter Blick in den Herbst

Schon jetzt warnen einige Ratsmitglieder, man dürfe die Zinsen nicht zu hoch schrauben. Dazu gehören unter anderem Italien, Griechenland, Malta und Portugal. Lissabons Notenbankchef Mario Centeno, der bereits seit Monaten auf die Bremse drückt, argumentiert, die EZB solle sich nicht so stark auf die Kerninflation konzentrieren. Ihr Inflationsziel von zwei Prozent beziehe sich schließlich auf die Verbraucherpreise, deren Wert sich deutlicher entspannt. Außerdem erwartet Centeno in den kommenden Monaten einen starken Rückgang der Gesamtinflation, weil er mit einem Einbruch der Preise an den Rohstoffmärkten rechnet.

Trotz der hohen Inflation könnte der Zenit bei den Leitzinsen also bald erreicht sein. Welches Lager sich am Ende durchsetzt, ist derzeit aber unklar. Es dürfte somit spannend werden im Herbst in Sachen Geldpolitik. Bis dahin muss sich die EZB allerdings eher Profanem widmen: dem verkorksten Elektro-System im Eurotower. Für die Handwerker viel Arbeit, denn mehrere Hundert Kilometer neue Kabel müssen gezogen werden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 27. Juli 2023 um 06:00 Uhr in den Nachrichten.