Ökonom Schularick Inflation - nur eine "historische Fußnote"?
Ist die Inflation gekommen, um zu bleiben? Nein, sagt Moritz Schularick. Der Ökonom macht im Gespräch mit tagesschau.de sogar Hoffnung auf eine Trendwende - zumindest in Europa.
tagesschau.de: Seit 2021 steigt die Inflation in Deutschland, ganz Europa und auch in den USA. Was genau hat diese Entwicklung eigentlich ausgelöst?
Moritz Schularick: Ganz überwiegend die stark gestiegenen Energiepreise im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Hinzu kommt, dass wir gleichzeitig aus der Pandemie herausgestartet sind, also viele Länder gleichzeitig die Volkswirtschaften wieder geöffnet haben, so dass der Konsum wieder angesprungen ist. Das hat im letzten Jahr dann schon ordentlichen Druck auf die Preise gemacht. Man kam teilweise mit den Lieferketten nicht hinterher.
Die Situation am Arbeitsmarkt war auch sehr gut, so dass viele Leute sehr schnell Arbeit gefunden haben und die Arbeitslosenraten sehr gering waren. Vor diesem Hintergrund hat dann der Krieg in der Ukraine die Inflationsraten in Gegenden gebracht, in denen wir jetzt sind, so zwischen acht, neun, zehn Prozent - je nachdem, wo man in Europa guckt. Also ganz klar: Der Großteil der Inflation kommt aus der Energie.
Zeichnet sich eine Trendwende ab?
tagesschau.de: Ein Hausmittel ist, dass die Notenbanken die Zinsen erhöhen. Das passiert jetzt in den USA relativ energisch, die EZB ist ein bisschen zögerlicher. Und trotzdem: Eine Trendwende ist noch nicht so richtig in Sicht. Woran liegt das?
Schularick: Die Situation in Europa ist in der Tat eine andere als in den USA. In den USA ist die Inflation genauso hoch wie in Europa, aber dort hat man nicht mit den höheren Gaspreisen zu kämpfen. Wenn man etwa an die Benzinpreise denkt: Diese sind aktuell so hoch, wie sie am Anfang des Jahres waren. In den USA ist die Inflation wirklich hausgemacht. Die Nachfrage dort ist zu stark. Die Wirtschaft boomt und überhitzt in dem Sinne auch so, dass sich Preisdruck entwickelt. In Europa sind die Energieträger, die zuletzt um über 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen sind, der Haupttreiber der Inflation. Insofern ist es auch richtig, dass die Europäische Zentralbank EZB und die amerikanische Notenbank, die Federal Reserve, hier unterschiedlich schnell reagiert haben.
Dennoch denke ich, dass sich eine Trendwende abzeichnet: zum einen durch das Abkühlen der Wirtschaft und zum anderen dadurch, dass wir doch offenbar ganz erfolgreich darin sind, in Europa Gas einzusparen. Das führt dazu, dass die Erwartungen für die Gaspreise fürs nächste Jahr deutlich gefallen sind. Das heißt, wir könnten auch in eine Situation kommen, in der im nächsten Jahr die Inflationsraten purzeln in Europa und viel schneller wieder runtergehen als in den USA.
tagesschau.de: Sie haben es angedeutet: Es gibt unterschiedliche Formen der Teuerung. Man spricht von angebotsinduzierter, nachfrageinduzierter und auch von importierter Inflation. Worin liegen die Unterschiede?
Schularick: Wir haben in der Tat verschiedene Typen von Inflation, von Preisdruck in der Volkswirtschaft zurzeit. Was wir in Europa sowie in Deutschland sehen, ist Preisdruck, also steigende Preise, die daher kommen, dass wir für importierte Güter, Energie, Gas viel höhere Preise bezahlen. Das schlägt sich dann auch auf Kosten etwa der Elektrizitätsherstellung im Inland nieder. Aber es ist in erster Linie eine Inflation, die aus der Angebotsseite kommt. Das ist, was die Ökonomen einen "Schock auf der Angebotsseite" nennen werden. Das heißt, wir haben einfach Preise, die von außen kommen, mit denen wir umgehen müssen. Da können wir auch nicht viel selber dran machen.
Anders wäre es, wenn wir im Inland eine Situation hätten, wo die Nachfrage nach Gütern und Investitionen und Dienstleistungen so hoch ist, dass wir da selber nicht mehr hinterherkommen mit dem, was wir produzieren. Dafür gibt es auf europäischer Ebene und auch in Deutschland bisher doch nur relativ schwache Anzeichen - und im Übrigen auch noch relativ schwache Anzeichen dafür, dass sich diese starken Energiepreise jetzt schon deutlich etwa in die Angebotspreise von Dienstleistungen oder auch andere Güter übersetzen. Das wird sicherlich zu einem gewissen Teil noch ändern in den nächsten Monaten. Aber insgesamt scheint sich das bisher sehr stark auf die Angebotsseite von Energiepreisen und energieintensiven Gütern zu konzentrieren.
"Eine ritualisierte Debatte"
tagesschau.de: Schauen wir nach Deutschland. Das Ende der Niedrigzinsphase ist zumindest eingeläutet, die EZB erhöht schrittweise die Leitzinsen. Was hat das für Folgen für die deutsche Staatsverschuldung?
Schularick: Die Entwicklung der Zinsen und die Zinspolitik der EZB würde ich grundsätzlich als sehr positiv und richtig beurteilen. Man hat reagiert auf die steigenden Inflationsraten. Das leuchtet jedem ein: Wenn die EZB die Zinsen anhebt, dann gibt es deshalb nicht mehr Gas, und Russland fängt dann auch nicht wieder an zu liefern, sondern man muss sich im Prinzip seitens der Zentralbank Gedanken machen um die Zweitrundeneffekte. Man will die Nachfrage ein bisschen dämpfen, damit insgesamt die Inflationserwartungen stabil bleiben und wir als Bürgerinnen und Bürger auch verstehen, dass das jetzt eine einmalige Sache ist. Das hat ganz viel mit dem Krieg zu tun und vielleicht auch noch ein bisschen mit der Pandemie. Aber das hat nichts grundsätzlich damit zu tun, wie wir wirtschaften, wie die EZB Geldpolitik macht und auch etwa, wie die Regierungen und Staaten in der Eurozone ihre Fiskalpolitik machen. Das sind meines Erachtens wirklich zweitrangige oder sogar drittrangige Faktoren.
Es hat natürlich Konsequenzen, dass jetzt die EZB so stark gegensteuert. Es hat Konsequenzen für die Zinsen. Etwa, wenn Sie sich ein Haus oder eine Wohnung kaufen möchten: Dann werden Sie sehen, dass die Zinsen stark gestiegen sind. Und das hat auch Konsequenzen für die Staatsverschuldung. Nicht sofort, weil die Staatsverschuldung nicht jedes Jahr komplett neu refinanziert werden muss - aber es wird für die nächsten Jahre heißen, dass die Zeiten, in denen der Staat Jahr für Jahr weniger für Zinszahlungen auf seine Schulden ausgeben musste, vorbei sind. Und wir werden uns jetzt Schritt für Schritt langsam darauf einstellen müssen, dass die Zinsen auf Staatsanleihen wieder steigen und damit auch die Zinskosten im Bundeshaushalt und in den Länderhaushalte wieder nach oben gehen.
tagesschau.de: Vor diesem Hintergrund - wie stehen Sie zu der Frage: Schuldenbremse einhalten nächstes Jahr - oder eher nicht?
Schularick: Das ist ein bisschen eine ritualisierte Debatte geworden in Deutschland. Ich denke, wir stehen vor einmaligen Herausforderungen. Auch wenn man in die Wirtschaftsgeschichte guckt, dann ist das eigentlich klar: Das sind Staaten, die jetzt mit so gravierenden Herausforderungen konfrontiert sind wie einem Krieg - letztlich an der Haustür Europas, an der Haustür der EU - und dazu natürlich mit den entsprechenden Konsequenzen für die Energiemärkte. Das ist nicht irgendein Krieg, irgendeine kriegführende Partei, sondern Russland, das die Ukraine angegriffen hat und das vor bis vor kurzer Zeit noch unser wichtigster Energielieferant war. Das ist eine historisch einmalige Situation. Und da ist es dann auch durchaus möglich und denkbar, die Schuldenbremse noch mal auszusetzen, wenn sich herausstellt, dass wir das brauchen, um durch diesen Winter zu kommen, um diese Herausforderung zu meistern. Da muss man dann auch gleich mal die die historische Besonderheit wahrnehmen.
In zehn, 20, 30 Jahren werden wir nicht mehr zurückschauen auf das Jahr 2022 und 2023 und uns fragen: "War die Inflationsrate in Deutschland bei 4,3 oder 5,1 Prozent?" Oder: "Haben wir die Schuldenbremse noch ein zweites Jahr ausgesetzt oder nicht?", sondern die Frage wird sein: "Haben wir es geschafft, als Europa durch diese Herausforderung gemeinsam zu gehen? Haben wir es geschafft, diesen russischen Angriffskrieg und seine wirtschaftlichen Folgen gemeinsam zu überwinden?" Und der Rest sind historische - und ich möchte sagen dann auch wirtschaftspolitische - Fußnoten. Da täte uns eine gute Portion angelsächsischer Pragmatismus ganz gut, statt immer diese aufgeregten Symboldebatten zu führen.
Das Interview führte Steffi Clodius, tagesschau.de