Hohe Inflationsraten Ist die EZB am Ende machtlos?
Im Kampf gegen die Inflation wird die EZB heute den Leitzins erneut kräftig anheben. Doch kann sie damit den rasant steigenden Verbraucherpreisen wirklich Einhalt gebieten?
Die Zeit der XXL-Zinsschritte im Euroraum ist noch nicht vorbei. Volkswirte sind überzeugt: Die Europäische Zentralbank (EZB) dürfte heute erneut eine Erhöhung ihrer Leitzinsen um 0,75 Prozentpunkte beschließen. Der Hauptrefinanzierungssatz würde danach auf 2,0 Prozent steigen, der für Sparer wichtige Einlagenzins entsprechend auf 1,5 Prozent zulegen.
Hohe Kerninflation erhöht Druck auf EZB
"Da die EZB im Straffungszyklus hinterherhinkt, muss sie weiter schnell und hart handeln", unterstreicht Franck Dixmier, globaler Anleihenchef des Vermögensverwalters AlllianzGI. Druck auf die Währungshüter kommt von den rekordhohen Inflationsraten im Euroraum.
In der Eurozone war die Teuerungsrate im September um 9,9 Prozent auf den höchsten Wert seit Bestehen der Währungsunion gestiegen. Die Kerninflationsrate, also die Entwicklung der Verbraucherpreise unter Herausrechnung der volatilen Energie- und Lebensmittelpreise, lag bei 4,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Inflation geht von Angebotsseite aus
Die Theorie besagt: Durch Leitzinserhöhungen lässt sich die Inflation bekämpfen, wird dadurch doch Sparen attraktiver, die Verbraucher konsumieren weniger, die Preise gehen zurück. Doch Vorsicht: Dieser Mechanismus greift nur, wenn es sich um eine nachfrageinduzierte Inflation handelt. Bei dieser Form der Inflation steigen die Preise, weil die Verbraucher so konsumfreudig sind und so viel Geld ausgeben.
Die aktuell steigenden Verbraucherpreise sind jedoch vielmehr Folge von Veränderungen auf der Angebotsseite; Ökonomen sprechen von einer angebotsinduzierten Inflation. Die Teuerung geht also in erster Linie von den Unternehmen und ihrer Preisgestaltung aus.
Hohe Rohstoffkosten und Lieferkettenprobleme
Auf diesen Punkt weist nun auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einer aktuellen Studie hin, die der Nachrichtenagentur Reuters vorliegt: Danach wird der für die Berechnung der Teuerungsrate herangezogene Warenkorb zu mehr als der Hälfte (51,9 Prozent) aus eher von der Angebotsseite beeinflussten Gütern bestimmt. Deren Preissteigerungen seien auf gestiegene Energie- und Rohstoffkosten und unterbrochene Lieferketten zurückzuführen.
Wir haben es folglich mit einer Kosteninflation, einer Sonderform der angebotsinduzierten Inflation, zu tun. Gegen diese Art von Inflation kann die EZB jedoch naturgemäß kaum angehen, zielt ihre Politik doch eher auf die Nachfrageseite ab. "Gegen einen großen Teil der aktuellen Inflation ist die Geldpolitik derzeit machtlos", schlussfolgern die IW-Autoren Markus Demary und Jonas Zdrzalek.
Entspannung bei Gaspreis und Lieferketten
Tatsächlich deutet sich bei den Inflationstreibern Energiekosten und Lieferketten derzeit - ganz ohne Zutun der EZB - ein wenig Entspannung an. So war der Gaspreis in Europa jüngst erstmals wieder unter 100 Euro und damit auf den niedrigsten Stand seit vier Monaten gesunken. Grund sind nach Angaben von Analysten der in ganz Europa milde Herbst sowie die gut gefüllten Gasspeicher.
Auch auf Seiten der Lieferketten lässt der Inflationsdruck nach. Das zeigt ein Blick auf den Baltic Dry Index, der die Nachfrage nach Schüttguttransportkapazitäten auf den Weltmeeren beschreibt. Ein Schiffscontainer kostet aktuell rund 3400 Dollar. "Frühere Preise aus der ersten Jahreshälfte von mehr als 10.000 US-Dollar sind weit entfernt. Containerpreise auf diesem Niveau sprechen für eine Auflösung der Lieferkettenproblematik", unterstreicht Marktexperte Robert Rethfeld von Wellenreiter-Invest.
Rethfeld rechnet nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines deutlich negativen Basiseffekts - im Frühjahr 2022 wurde massive Inflationssprünge verzeichnet - für das kommende Frühjahr mit stark fallenden Euroraum-Inflationsraten in Richtung der Vier-Prozent-Marke.
EZB muss um Glaubwürdigkeit bangen
Bleibt die Frage: Wenn die EZB erstens wenig Einfluss auf die angebotsinduzierte Inflation nehmen kann und zweitens die Inflationsraten ohnehin bald fallen könnten, warum versuchen die Währungshüter um Christine Lagarde dann überhaupt gegenzusteuern?
Dabei geht es auch um Glaubwürdigkeit. Die EZB muss wieder die Kontrolle über die Inflationserwartungen zurückerlangen. Denn es besteht die reale Gefahr, dass die Marktteilnehmer die aktuell hohen Inflationsraten als neue Normalität wahrnehmen und sie einpreisen. Experten warnen vor einer Lohn-Preis-Spirale. Die Lohnverhandlungen in einem äußerst angespannten sozialen Klima in der gesamten Eurozone haben gerade erst begonnen.
Risikofaktor importierte Inflation
Nicht zuletzt haben die Währungshüter mit ihrer Geldpolitik auf einen Teilbereich der Inflation sehr wohl einen deutlichen Einfluss: nämlich auf die so genannte importierte Inflation. Denn es ist auch der schwache Euro, der die Preise hierzulande steigen lässt. So notieren Rohstoffe wie etwa Öl in Dollar. Fällt der Euro zum Dollar, müssen Käufer im Euroraum für die gleiche Menge Öl unter sonst gleichen Bedingungen mehr bezahlen.
Steigende Leitzinsen im Euroraum machen jedoch Anlagen im Euroraum attraktiver, das lässt wiederum die Nachfrage nach Euro und damit den Euro-Kurs steigen. Wie sehr die EZB mit ihrer Geldpolitik hier Einfluss nehmen kann, ließ sich zuletzt am Devisenmarkt beobachten. Der Euro/Dollar-Kurs konnte seit Wochenbeginn um rund 1,6 Prozent zulegen. Marktbeobachter sprechen von einem klassischen "Antizipierungseffekt": Die Anleger nehmen also die bevorstehende Leitzinserhöhung vorweg.
Aggressive Leitzinserhöhungen nähern sich dem Ende?
Die EZB tut somit gut daran, die Hände nicht in den Schoß zu legen und zumindest zu versuchen, der Inflation ein Stück weit wieder Herr zu werden. Vor dem Gesichtspunkt fallender Energiepreise und gleichzeitig wachsender Konjunkturrisiken dürfte die EZB ihre aggressivere Gangart jedoch nicht mehr allzu lange beibehalten. Zumal der Vorreiter Fed schon demnächst beginnen könnte, den Fokus von der Inflations- auf die Rezessionsbekämpfung zu legen.