Starke Preiserhöhungen Lagarde sieht Gierflation bei Unternehmen
In ungewöhnlicher Form kritisiert die EZB die Wirtschaft, die Teuerung künstlich anzutreiben. Was für Verbraucher ärgerlich ist, wird für die Währungshüter zum Problem: Gegen Profitgier können sie nämlich nichts ausrichten.
Immer wieder nimmt die alte Dame die kleine Packung Hähnchenfilet aus der Tiefkühltruhe, schaut sie sich an, guckt dann ins Portemonnaie und stellt sie wieder zurück. Mit 5,98 Euro verlangt der Discounter, der sich gerne als besonders günstig anpreist, auch einen stolzen Preis. Das Mini-Produkt gab es vor wenigen Monaten noch für die Hälfte. Doch für die Rentnerin ist der neue Preis zu hoch. Stattdessen geht sie drei Reihen weiter und greift zur Packung Spaghetti.
Wie teuer Lebensmittel schon geworden sind
Nahrungsmittel sind weiterhin der Preistreiber Nummer eins in Deutschland und sie schmälern das verfügbare Einkommen vieler Menschen erheblich. Auch wenn sich die Inflationsrate in Deutschland im Mai im Vergleich zum Vorjahr auf 6,1 Prozent etwas abgeschwächt hat, stiegen die Preise für Lebensmittel weiter massiv an - um fast 15 Prozent. Teurer wurden vor allem Molkereiprodukte (plus 28 Prozent), Brot (plus 19 Prozent) und Fisch (plus 19 Prozent). Auch für Marmelade, Schokolade und Gemüse mussten Verbraucher deutlich tiefer in die Tasche greifen.
Ursprünglich waren die Folgen der Corona-Krise, der Krieg gegen die Ukraine und die hohen Energiepreise Auslöser der hohen Inflation. Jetzt wird immer klarer, dass viele Unternehmen die Preise auch künstlich antreiben. "Gierflation" heißt das Phänomen, bei dem Firmen deutlich mehr auf den Endpreis schlagen, als es die gestiegenen Kosten für Strom, Gas oder Vorprodukte rechtfertigen lassen.
"Preise über den bloßen Kostendruck hinaus erhöht"
Dieses "mehr" wird mittlerweile zum Preistreiber in sich selbst und damit zur Herausforderung - so sehr, dass jetzt sogar EZB-Präsidentin Christine Lagarde vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments deutliche Worte fand: Die meisten Unternehmen hätten "den Vorteil genutzt, die höheren Kosten völlig auf die Kunden abzuwälzen", so Lagarde. "Und einige von ihnen haben die Preise über den bloßen Kostendruck hinaus erhöht."
Nicht nur die EZB, auch zahlreiche andere Studien belegen das Phänomen der Gierflation. Für den Lebensmittelbereich untersuchte der Kreditversicherer Allianz Trade den Markt und kam zu dem Schluss: "Es scheint zunehmend Anzeichen für Gewinnmitnahmen zu geben sowie unzureichenden Wettbewerb", sagt Inflations-Experte Andy Jobst. Dies gelte vor allem für die Hersteller von Milchprodukten, Eiern und nicht-saisonalem Obst und Gemüse.
Ablenken von eigenen Versäumnissen?
Viele Verbraucherschützer machten Stichproben, bei denen herauskam, dass die hohe Teuerung bei manchen Produkten "weder gerechtfertigt noch nachvollziehbar" sei, so etwa das Ergebnis der Verbraucherzentrale NRW. Eine Untersuchung des Münchener ifo-Instituts fand heraus, dass nicht nur der Handel, sondern auch das Gastgewerbe, der Verkehrssektor und das Baugewerbe genau verstünden, wie man Preise stärker erhöht als notwendig.
Tatsächlich ist die Teuerung auch im Tourismus besonders heftig: Airlines verlangen auf beliebten Routen heute im Durchschnitt doppelt so hohe Ticketpreise wie vor einem Jahr, obwohl die Kerosin-Preise drastisch gefallen sind. Auch die Reiseveranstalter schlugen bei Pauschalreisen kräftig drauf - wohlwissend, dass gerade die Deutschen nach Jahren der Corona-Entbehrung offenbar bereit sind, alles zu zahlen, was der Markt verlangt.
Für die EZB sind die jetzt dargelegten Entwicklungen ein Argument, um von eigenen Versäumnissen bei der Inflationsbekämpfung abzulenken. Aber sie stellen für die Währungshüter auch ein großes Problem dar: Gier kann man mit Geldpolitik nämlich schlecht zügeln. Gegen ungerechtfertigte Teuerung helfen weder Zinsanhebungen noch straffe Geldpolitik.
Kartellbehörde bislang nicht eingeschritten
Auch aus diesem Grund ging EZB-Präsidentin Christine Lagarde jetzt noch einen Schritt weiter: Vor dem EU-Parlament forderte sie, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden mit dem Thema Gierflation befassen sollten. "Ich würde das auf jeden Fall für absolut angebracht halten", sagte sie den Parlamentariern. Viel Hoffnung muss sich Lagarde da aber nicht machen: Schon im vergangenen August hatte Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes, hierzulande zuständig für einen ordentlichen Wettbewerb, von einem heftigen Anstieg der Beschwerden über unlautere Preissteigerungen bei Lebensmitteln berichtet. In Einzelfällen werde geprüft. Passiert ist bislang nichts.
So wird die EZB diese Woche die Zinsen also weiter anheben, auch wenn die Zinswende mittlerweile erste Spuren in der schwachen Konjunkturentwicklung hinterlässt. Weil Investitionen sich deutlich verteuert haben, halten sich viele Unternehmen zurück. Die Konsumentenstimmung ist ohnehin im Keller. So rutschte nach Deutschland nun auch die gesamte Eurozone in die Rezession. Nicht massiv, aber doch stark genug, dass warnende Stimmen im EZB-Rat vor zu hohen Zinsen wieder Auftrieb gewinnen.
Hartnäckige Teuerung
Doch Christine Lagarde hat in den vergangenen Wochen eins gelernt: Ihr Ruf ist mit einer erfolgreichen Inflationsbekämpfung verknüpft. "Wenn Sie mich fragen, ob ich damit zufrieden bin, wo wir jetzt stehen", fragte sie kürzlich rhetorisch im tagesschau.de-Interview und antworte auch gleich darauf: "Nein, ich bin nicht zufrieden. Ich werde erst dann zufrieden sein, wenn wir unser Ziel erreichen, also mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent haben."
Bis es soweit ist, dürften allerdings noch Monate ins Land ziehen. Denn der Inflationsschub ist sehr hartnäckig und nur schwer zu bändigen trotz erster Erfolge. Die Rentnerin im Supermarkt wird also weiter rechnen, sparen und auf manches verzichten müssen. Nicht nur sie.