Blick auf Ziffern, die zur Zeitmessung von Häftlingen in die Wand eines Kellers in Cherson in einem Gebäude geritzt wurden, das nach Angaben eines Staatsanwalts für Kriegsverbrechen von russischen Streitkräften als Folterstätte genutzt wurde.

Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft Abgemagert und traumatisiert

Stand: 01.10.2024 17:49 Uhr

Misshandlungen von Kriegsgefangenen gebe es zwar auf beiden Seiten - doch in Russland geschehe dies "systematisch", so die UN. Viele Opfer leiden lange darunter. So wie Jurij, der verstummt in die Ukraine zurückkehrte.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

"Du bist unsere Sonne, unsere Freude, unser Stolz", flüstert die Mutter unter Tränen und streicht ihrem Sohn vorsichtig über den kurz geschorenen Kopf. Vor etwa zwei Wochen berührt dieses Video die Menschen in der Ukraine.

Es zeigt den 22 Jahre alten Soldaten Jurij Hultschuk. Nach seinem Einsatz in Mariupol ist er nach über zwei Jahren aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Seine Mutter Milana erzählte ukrainischen Medien: "Ich wusste schon lange, dass Jurij nicht mehr spricht. Die Kameraden, die aus seiner Zelle entlassen wurden, sagten, er habe im Juni 2023 aufgehört zu sprechen."

Ukrainer erkennt eigene Mutter kaum

Vor dem Krieg beherrschte ihr Sohn eigentlich vier Sprachen - neben Russisch und Ukrainisch auch Englisch und Chinesisch. Er wollte als Übersetzer arbeiten. Nun aber erkennt er seine eigene Mutter kaum wieder. Die Augen sind starr, er scheint auf ihre Umarmungen und Küsse nicht zu reagieren. Folgen der systematischen Folter in russischer Kriegsgefangenschaft.

"Sie kommen zurück und sind nur noch Haut und Knochen", sagt Milana Hultschuk. Ihr Sohn Jurij habe 50 Kilo Gewicht verloren. Er habe vorher 100 Kilogramm gewogen.

Nur wenige Gramm Brot und Brei pro Tag

"Er ist groß und ich konnte mich hinter ihm verstecken wie hinter einer Mauer. Aber jetzt ist er ein mit Haut bedecktes Skelett", sagt Milana. Hunger sei auch eine Foltermethode. "Wir verstehen einfach noch nicht, wie sehr Russland diese Methode nutzt."

Entlassene Kriegsgefangene berichten oft Ähnliches: Nur wenige Gramm Brot oder Brei pro Tag erhalten sie zu essen, müssten kochend heißes Wasser innerhalb kürzester Zeit trinken. Sie berichten von Schlägen, Tritten, Elektroschocks an den Genitalien, Scheinexekutionen und Vergewaltigungen.

Lage in Russland "mit nichts zu vergleichen"

Danielle Bell arbeitet bei der UN-Menschenrechtsmission in der Ukraine. Sie hat schon in Afghanistan, dem Irak oder dem Sudan die Behandlung von Kriegsgefangenen dokumentiert. Doch die Misshandlungen in russischer Kriegsgefangenschaft seien mit nichts zu vergleichen, sagt Belle.

Es ist brutal, unerbittlich, erschütternd. Es ist schrecklich. Das muss aufhören.

Der UN-Organisation sei nicht bekannt, dass die Russische Föderation Maßnahmen ergriffen habe, um diese weitverbreitete und systematische Folter zur Rechenschaft zu ziehen, "obwohl Kriegsgefangene durch die Genfer Konvention ausdrücklich geschützt werden", führt Belle aus.

Auch Russen berichten von Misshandlungen

Für ihren neuesten Report haben Belle und ihr Team auch mit russischen Soldaten in ukrainischer Kriegsgefangenschaft gesprochen. Auch sie berichten von Misshandlungen und Schlägen. Allerdings gäbe es einen großen Unterschied bei Systematik und Ausmaß.

Nach den Daten der UN berichten etwa die Hälfte der russischen Kriegsgefangenen, dass sie während ihrer Festnahme geschlagen worden seien. In den ukrainischen Gefangenenlagern aber würden sie entsprechend der Genfer Konvention behandelt, sagt Belle. Anders sei das Bild in Russland.

Keine Einzelfälle, keine schwarzen Schafe

"Wir haben dokumentiert, dass dort Folter und Misshandlung von mehreren Akteuren ausgeübt werden - vom Gefängnispersonal, vom Geheimdienst FSB, von den russischen Sicherheitsdiensten, von den russischen Streitkräften, von mehreren verschiedenen Stellen", sagte Belle. Das seien keine Einzelfälle, keine schwarzen Schafe. Und das in unterschiedlichen Hafteinrichtungen - in Russland und in den von Russland besetzen Gebieten in der Ukraine.

Das bestätigt auch Roman, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Er ist bereits vor anderthalb Jahren aus der Gefangenschaft befreit worden. Doch er hat bis heute mit den Folgen zu kämpfen. Am schlimmsten sei es im russischen Kursk gewesen, berichtet Roman.

"Dort gibt es einen Korridor, in dem es auf beiden Seiten Stufen nach unten gibt. Die Jungs wurden diese Treppe hinuntergebracht, sie waren nackt, drei Männer. Mein Kamerad und noch zwei andere. Sie wurden gezwungen, sich abwechselnd gegenseitig zu vergewaltigen." Nachdem sich die Männer geweigert hätten, habe man ihnen gedroht, es stattdessen "mit dem Schlagstock zu erledigen".

Viele Kriegsgefangene Opfer sexualisierter Gewalt

Es sei in diesem Fall nur eine Drohung gewesen, sagt Roman. Daten der UN zeigen jedoch: Viele ukrainische Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft werden Opfer sexualisierter Gewalt. Nicht alle überleben die Gefangenschaft, berichten ehemalige Kriegsgefangene. Manch werden zu Tode gefoltert, sterben an unbehandelten Verletzungen, Krankheiten oder nehmen sich das Leben.

Roman hat überlebt. Aber er sei gezeichnet, berichtet seine Frau Iryna. Sie beobachtet auch lange nach seiner Rückkehr Folgen der Folter: "Tatsache ist, dass die Folgen der Gefangenschaft erst fast ein Jahr später sichtbar werden." Wenn Roman sich bücke, werde er ganz rot. Wenn es zum Beispiel Schwierigkeiten in der Familie gebe oder Dinge schnell erledigt werden müssten, dann rege ihn das auf. Sein ganzer Körper zittere und sei angespannt.

Roman vergisst viel, kann sich nicht konzentrieren, kann nicht arbeiten. Wenn er mit seinem Kind spielen möchte, schmerzt der Körper.

Jurij findet seine Sprache wieder

Der 22-jährige Jurij befindet sich jetzt in medizinischer Behandlung. Und zur Überraschung der Ärzte habe er schon wenige Tage nach seiner Rückkehr in die Ukraine wieder angefangen zu sprechen, berichtet seine Mutter: "Er hat fast zwei Stunden ohne Punkte und Komma gesprochen. Als sei alles in ihm so aufgestaut, als habe sich der Korken gelöst und die Emotionen sprudelten aus ihm heraus wie aus einer Champagner-Flasche." Außerdem - so erzählt die Mutter - habe ihr Sohn gesagt: "Wie können Menschen nur so grausam sein."

Rebecca Barth, ARD Kiew, tagesschau, 01.10.2024 16:27 Uhr