1.000 Tage Krieg Die tiefen Wunden der Ukraine
Der russische Angriffskrieg zermürbt die ukrainische Gesellschaft. Während Soldaten an der Front und ihre Familien im Hinterland verzweifeln, verlassen andere zu Tausenden das Land.
Seit 1.000 Tagen ist Antonina Danylewitsch auf sich allein gestellt. Denn vor genau 1.000 Tagen überfiel Russland die gesamte Ukraine. Seitdem ist in dem Leben der Familie Danylewitsch nichts mehr wie es einmal war. Seitdem verteidigt Ehemann Oleksandr die Ukraine, vor allem im Osten des Landes. Er kämpft bei Bachmut oder Charkiw.
In diesen 1.000 Tagen hatte Oleksandr zweimal Urlaub für je 15 Tage. "Früher kam er von der Arbeit nach Hause, heute kommt er zu Besuch", sagt Danylewitsch. Sie wohnt in der Drei-Zimmer-Wohnung im Norden der ukrainischen Hauptstadt Kiew gemeinsam mit ihrer Tochter. Der Sohn studiert und ist bereits ausgezogen.
Sie dürfe keine Schwäche zeigen, sagt Danylewitsch. "Wenn meinem Mann im Krieg etwas zustößt, sollen die Kinder wissen, dass sie sich auf ihre Mutter verlassen können." Die blonde Frau beginnt leise zu weinen. Es gibt keine Großeltern, die ihr etwas Last abnehmen könnten. Sie habe keine Wahl, als jeden Tag stark zu sein, sagt sie.
Die Zermürbung zeigt sich in Gesprächen
Der russische Angriffskrieg zermürbt die ukrainische Gesellschaft - jeden Tag ein Stückchen mehr. Das zeigt sich in Zahlen: Mehr als sechs Millionen Menschen haben das Land nach UN Angaben verlassen. Viele von ihnen vermutlich für immer. Zehntausende wurden getötet oder verletzt. Seit 2014 hat die Ukraine etwa 20 Prozent ihres Staatsgebietes verloren.
Die Zermürbung zeigt sich aber vor allem in Gesprächen. Da sind die vielen Freiwilligen wie Wiktorija, die Spenden für die Armee sammeln. "Aber bei meinem letzten Spendenaufruf haben fast nur Soldaten oder ihre Angehörigen gespendet", sagt sie zerknirscht. Ist der Krieg für manche Menschen in der Ukraine weit weg?
Kaum vorstellbar bei den massiven russischen Luftangriffen auf die gesamte Ukraine. Kaum vorstellbar angesichts der Tatsache, dass dabei nicht selten ganze Familien ausgelöscht werden. In Lwiw ganz im Westen des Landes oder wie zuletzt in Krywyj Rih im Süden überlebte jeweils nur der Vater.
Zwischen Tod und Fröhlichkeit in Cafés
"In Kiew hat man das Gefühl, es gäbe gar keinen Krieg", entgegnet Hanna Vasyk. Die Soldatin hält an einem Samstagmorgen einen Vortrag vor Medizinstudierenden in der ukrainischen Hauptstadt. Das Gefühl, dass irgendwo im Land das Leben weitergehe, während ihre Freunde an der Front sterben, sei für sie das Schlimmste, sagt Vasyk.
Die hagere Frau mit den kurzen schwarzen Haaren war als Sanitäterin 2023 im Süden der Ukraine im Einsatz, als die Armee erfolglos versuchte, durch die russischen Verteidigungslinien zu brechen. Stattdessen blieben die ukrainischen Truppen in russischen Minenfeldern stecken.
"Ich habe die Verletzten oft über Stunden nicht bergen können. Die Schreie über Funk zu hören und nichts tun zu können macht mich bis heute fertig", sagt Vasyk. Fertig mache sie auch die ausgelassene Stimmung in Kiews Cafés und Restaurants, sagt sie in ihrem Vortrag vor den Studierenden.
Aderpressen und Schlafsäcke
"Es ist nicht alles schwarz-weiß", erwidert Wiktorija, die Freiwillige, die unermüdlich Spenden für die Armee sammelt, um überlebenswichtige Aderpressen, Schlafsäcke, warme Uniformen und Medikamente zu kaufen. Wiktorija hat lange ruhig zugehört.
Jetzt steht sie da, das Mikrofon fest umklammert. Ihre Stimme bebt. Auch sie würde mit ihren Kollegen in Cafés sitzen, sagt sie. "Aber zuletzt haben wir dort Abschied von einem Freund genommen, der getötet wurde."
Mangel an Waffen und hohe Verluste
Auf ihrem Balkon in Dnipro schüttelt Anna Gorbatschowa erschöpft den Kopf und seufzt. Sie lässt den Blick über die dunklen Straßen der Stadt schweifen. Ein Krankenwagen fährt vorbei. In der Nähe befindet sich ein Militärkrankenhaus. Und eine Leichenhalle.
Gorbatschowa musste mit ihrer Familie bereits zweimal vor den russischen Truppen fliehen. Zuerst 2014, dann 2022. Der jüngste Sohn kann sich kaum mehr an ein Leben in Frieden erinnern. Den ältesten versucht Gorbatschowa heute vor der Einberufung in die Armee zu schützen. Zu viele ihrer Freunde und Bekannte sind schon an der Front getötet worden.
"Andere Frauen müssen mich dafür hassen", sagt sie bitter. "Bin ich egoistisch?" Aber sie wisse zu viel über die Missstände an der Front, sagt sie. Über schlechte Kommandeure oder unzureichende Ausbildung. Über die hohen Verluste. Über den Mangel an Waffen, um den vorrückenden Russen etwas entgegenzusetzen.
Soldaten bleibt nur Kontakt zur Familie
Tausende Männer haben das Land illegal verlassen. Viele verstecken sich vor den Einberufungsbehörden. Manche bestechen die Mitarbeiter der medizinischen Untersuchungskommission, um als untauglich ausgemustert zu werden.
Vielen an der Front gelten diese Männer als Verräter, Schwächlinge und Drückeberger. Je länger der Krieg dauert, desto weniger Kontakt haben viele Soldaten zu ihren Freunden und Bekannten aus dem zivilen Leben. Oft bleiben nur die Ehefrauen. Frauen wie Antonina Danylewitsch, die von Einsamkeit in Kiew berichtet. Und trotz täglichem Kontakt ihrem Mann immer weniger zu sagen hat.
Heute überwiegt bei Danylewitsch die Wut. Wut auf diejenigen, die fliehen. Und Wut auf den Staat, der es nicht schafft, genügend Soldaten einzuziehen, damit ihr Mann nach Hause kommen kann. Der es nicht schafft, die Korruption zu bekämpfen, damit sich niemand mehr freikaufen kann.
Wunsch nach Verhandlungen
"In letzter Zeit bin ich so frustriert, dass ich, wenn der Krieg vorbei ist, meine Sachen packen und dieses Land verlassen möchte", sagt Danylewitsch. Sie lacht bitter. "Diejenigen, die sich jetzt verstecken, tun nach dem Krieg sicherlich so, als seien sie die größten Patrioten."
Danylewitsch wünscht sich Verhandlungen. Und ein schnelles Ende des Krieges. Etwa ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung ist laut Umfragen auch zu Gebietsabtretungen bereit. Aber kaum jemand glaubt daran, dass auch Russland wirklich Frieden will.