Foltergefängnisse in Cherson "Sie dachten, ich sei tot"
Die ukrainische Stadt Cherson ist befreit, doch die Wunden bleiben. So wie bei Danija, Denys und Jewhen. Sie berichten von Folter durch die russischen Besatzer.
"Einmal dachten sie, ich sei tot", sagt Denys und zieht an seiner Zigarette. Den Begleitsound russischer Artillerie beachtet er schon gar nicht mehr.
Der schmale, dunkelblonde 19-Jährige aus Cherson ist während der monatelangen Besatzungszeit seiner Heimatstadt online aktiv. Gemeinsam mit Freunden postet er gegen die verhassten Okkupanten aus Russland. "Wir wurden alle erwischt", sagt er.
Im September stürmen maskierte Männer in Denys' elterliche Wohnung. Schwer bewaffnet schlagen sie seinem Vater einen Zahn aus und brechen ihm mehrere Rippen. Sie richten die Waffe auf seine schreiende Mutter und nehmen Denys mit, in Handschellen mit einem Sack über dem Kopf. Sie werfen ihn in eine Zelle, und es beginnt.
"Sie haben meinen Atem blockiert"
"Erst haben sie mich geschlagen, dann kamen die Elektroschocks", erzählt Denys. Zwei Geräte seien mit Klemmen an ihm befestigt worden. Er sei gefragt worden, ob er ein Partisan sei. "Aber ich habe immer gesagt: 'Nein, ich war die ganze Zeit zu Hause.'"
Die Eindringlinge der russischen Armee werden in der Ukraine auch "die Orks" genannt. Denys' Folterer nehmen dies zum Anlass für noch mehr Gewalt. "Sie waren beleidigt, weil wir sie 'Orks' nennen", sagt Denys.
Sie haben mir eine Gasmaske aufgesetzt und meinen Atem blockiert. Ein paar Mal habe ich das Bewusstsein verloren, und dann haben sie wieder diese Klammern an meine Ohren geklemmt. Ein ganzer Blutfluss kam aus meiner Nase. Und auch mein Rücken hat geblutet.
Danijas Festnahme
Gemeinsam mit seinem Freund Danija steht Denys vor dem grauen Tor, durch das beide in ihre persönliche Hölle gebracht werden. Denn Danija wird kurz nach Denys von den Besatzern abgeholt.
"Sie haben mich in einen Bus geworfen und das ganze Haus auf den Kopf gestellt", erzählt Danija. "Sie haben eine amerikanische Fahne bei mir gefunden. Sie dachten wahrscheinlich, dass ich so eine Art NATO-Stützpunkt bin."
Denys und der braunhaarige Danija sind seit der fünften Klasse befreundet. Sie reden nicht hektisch - dafür viel und schnell. Sie überlegen gemeinsam, ergänzen einander, fallen sich aber nie ins Wort.
Zwei Monate Haft - ohne Kontakt
Von Anfang September bis Ende Oktober - fast zwei Monate - werden sie festgehalten - ohne Rechtsgrundlage, ohne Kontakt zur Außenwelt. Unter völliger Missachtung aller Rechte, die laut Völkerrecht auch von der Besatzungsmacht Russland einzuhalten wären.
Auf ihrem Handy zeigen die beiden Fotos, die ukrainische Ermittler von ihrer Zelle gemacht haben: dreckig, kahl, mit ständigem Licht, Flaschen als Toilette.
Hinzu kommt die Angst: vor Folter, vor angedrohter Vergewaltigung, vor den Schmerzensschreien der anderen Gequälten.
Jewhen Tilnjak blickt aus dem Fenster der Zelle, in die er eingesperrt wurde.
Kein Anwalt, keine Gerichte, keine Polizei
Auch Jewhen Tilnjak wird in Cherson grundlos festgehalten. Zwei Wochen lang sitzt er in einem Untersuchungsgefängnis, dass die russische Besatzungsmacht zur Folterkammer umgewandelt hat.
Jewhen geht die langen Gänge entlang, bis in die Zelle, in der er saß, und schaut durch das vergitterte Fenster. Ende April wird er von der Arbeit aus mitgenommen - nach einer Explosion in der Stadt. Als er damals ankommt, ist er verletzt.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Vermutlich wird er deswegen nicht körperlich gefoltert, glaubt er. "Es wäre deswegen eine Sünde zu klagen", betont der 56-Jährige. Doch die gellenden Schreie der anderen könne er genauso wenig vergessen wie seine absolute Rechtlosigkeit.
Jeder Mensch, der seine Sinne beisammen hat, weiß, dass, wenn am dritten Tag kein Anwalt kommt und niemand weiß, wo man ist, alles passieren kann. Es gibt normalerweise Gerichte, die Polizei, die Staatsanwaltschaft. Aber das gab es alles nicht.
Auf der Suche nach dem Ehemann
Natajlja Tilnjak läuft sich währenddessen die Füße wund, um bei den Besatzungsvertretern herauszufinden, wo ihr Ehemann ist. Sie hat die Explosion gehört, bei der dieser verletzt wurde und kommt vor Sorge fast um.
Von einem russischen Militärangehörigen erfährt sie schließlich, dass ihr Mann lebt. Er schmuggelt sogar einen Zettel für sie hinaus. "Den Zettel habe ich immer bei mir", sagt sie und öffnet nervös ihre Handtasche. Auf dem kleinen weißen Zettel steht:
Ich lebe. Ich bin gesund. Ich liebe dich. Ich mache mir Sorgen um euch alle. Macht euch keine Sorgen um mich.
Im Hintergrund grollt immer wieder Artillerie und es gibt Einschläge in der Stadt. Denn auf dem linken Flussufer des Dnipro steht die russische Armee noch immer bedrohlich nah.
Die blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden und im rosa Mantel wirkt Tilnjak trotz allem gefestigt. Sie sorgt sich um ihren Mann.
Es hat Einfluss auf ihn. Er war immer sehr ruhig, aber jetzt ist er etwas nervös geworden. Und er hat sich ja auch Sorgen um seine Familie gemacht. Mein Sohn wollte mich immer begleiten auf der Suche, aber ich hatte Angst, denn er hat eine proukrainische Tätowierung auf dem Arm.
Spuren von Gummiknüppeln
Unterdessen führt Jewhen weiter durch das leere Gefängnis. Die Verhörräume, in denen andere gefoltert wurden, und die Zellen sprechen Bände. "Ruhm der russischen Armee", "Ruhm den Spezialkräften" steht an den Wänden, die auch frische Spuren schwarzer Gummiknüppel aufweisen.
Die Wandschrift "Ruhm Russland" in einem Gefängnis in Cherson ist teils übermalt worden.
Jewhen hat einen Kalender in seine Zelle gemalt, die Farbe dafür kratzte er aus den Wandritzen. Bei den Befragungen habe er immer einen Sack über dem Kopf gehabt, doch er glaubt, Angehörige des russischen Geheimdienstes ausgemacht zu haben.
Denys und Danija meinen, Männer aus den selbsternannten Volksrepubliken erkannt zu haben. Danija sagt:
Wir wurden vor allem durch Leute aus den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk gefoltert. Das heißt, grob gesagt, es waren Landsleute, die zu den Bösen übergelaufen sind. Auch von der Krim waren welche dabei.
Und Denys ergänzt, sie hätten gebrüllt, dass sie ihn in den Donbass schicken. Nicht, um zu kämpfen, sondern einfach, um hingerichtet zu werden:
Sie haben geschrien, dass wegen mir ihre Jungs reihenweise sterben würden. Und sie haben gedroht, dass sie mir mit Zigarettenkippen die Augen ausbrennen, dass sie mir kochendes Wasser über die Füße gießen oder Säure. Es gab viele Drohungen.
Schmerzen nach der Haft
Denys reibt sich immer wieder die Schulter und auch sein Bein macht ihm zu schaffen. Bei einem Arzt war er noch nicht. Die Krankenhäuser würden oft beschossen. "Das Bein tut etwas weh", sagt der 19-Jährige. "Da ist eher ein Riss. Aber wenn ich wenig gehe, stört es nicht. Wenn ich durch die Stadt laufe, dann hinke ich manchmal."
Auch Danija will sich erstmal keine Unterstützung suchen: "Ich dachte, ich würde nach all dem zu einem Psychologen gehen. Aber nein, alles ist in Ordnung."
Danija und Denys reden über das Erlebte. Auch das gute Verhältnis zu ihren Eltern helfe, meinen beide. Sie möchten arbeiten, wieder studieren, einfach ihr Leben zurück haben - und ihr Land, sagt Danija.
Wir wünschen uns eine wohlhabende Ukraine, eine Ukraine in Europa. Ohne Korruption. Ich hoffe, dass es später mehr Militärs im Parlament gibt. Und ich möchte, dass alles gewissenhaft und ehrlich abläuft. Dass einfach alles dem Gesetz entspricht.
"Wir wollen keine Diktatur"
Ein abgerissen wirkender Mann bittet Denys um eine Zigarette, er gibt sie ihm sofort. "Wir wollen keine Diktatur, sondern Demokratie und Freiheit - und das schon lange", betont auch Denys. Sein Bruder habe in Aszovstal um Mariupol gekämpft und sei in Gefangenschaft geraten, sein Onkel sei ebenfalls Soldat, monatelang habe er nichts von ihm gehört. Als Denys in Haft sitzt, suchen ihn seine Verwandten und fragen hartnäckig nach bei den Besatzern.
"Man hat ihnen gesagt, dass ich vermisst werde, dass es Krieg gibt", sagt der 19-Jährige. "Es wurde ihnen gesagt, ich sei nicht mehr am Leben, aber ich bin zurückgekehrt."