Ihor auf einem Spielplatz.
Weltspiegel

Verschleppte ukrainische Kinder "Viele kehren gar nicht mehr zurück"

Stand: 26.03.2023 09:02 Uhr

Tausende ukrainische Kinder sollen nach Russland verschleppt worden sein. Um sie zurückzuholen, müssen ihre Eltern sie persönlich abholen. Doch nicht allen gelingt das.

Von Tobias Dammers, ARD Kiew

Das Angebot, das Ihor später zum Opfer eines mutmaßlichen Kriegsverbrechens machte, war zu verlockend, um es abzulehnen: ein Ferienlager in der russischen Stadt Anapa, weit entfernt von der Kampfzone in seiner ukrainischen Heimat - angeboten durch die russischen Besatzungsbehörden. Der erste Urlaub im Leben des 16-Jährigen sollte mehrere Wochen dauern und kostenlos sein. Aber es kam anders.

Denn der Urlaub wurde zur Entführung und vermutlich sogar Teil eines Kriegsverbrechens. Was der schmächtige, blasse Junge nicht ahnen konnte: Aus dem Ferienlager in Russland wird er mehr als vier Monate nicht zurückkehren.

Ihor ist eines von laut ukrainischen Angaben mehr als 16.000 Kindern und Jugendlichen, die während des Krieges von Russland verschleppt worden sind. Erst seit rund zwei Wochen ist Ihor wieder zurück in der Ukraine. "Zurückzukommen ist ein großer Schritt", sagt Ihor. "Viele kehren gar nicht mehr zurück."

Krieg gegen die Ukraine: Das Schicksal der verschleppten Kinder

Tobias Dammers, ARD Kiew, Weltspiegel 18:30

Rückeroberung der Heimat verhindert Heimkehr

Ursprünglich stammen Ihor und seine Mutter Natalja Lysevych aus dem Dorf Antoniwka in der Region Cherson im Süden der Ukraine. Direkt in den ersten Tagen der Invasion erobern die russischen Truppen ihre Heimatgegend. Es folgen acht Monate russische Besatzung und damit auch der Konsum ausschließlich russischer Medien.

Von Kriegsgräueln wie in Butscha oder Irpin hätten sie nichts mitbekommen, sagt Lysevych. Die Besatzung wurde zur neuen Normalität. Sie sagen dem Angebot der russischen Besatzer zu - und Ihor reist ins Ferienlager nach Anapa.

Ihor Lysevych

Ihor sagt, zurückzukommen sei ein großer Schritt - viele kehrten gar nicht mehr zurück in die Heimat.

Kurz vor dem geplanten Ende seines Aufenthalts im Camp ändert sich allerdings die militärische Situation, als die ukrainische Armee im November weite Teile der Region Cherson und Ihors Heimatdorf überraschend zurückerobert. Seine Rückkehr aus dem Ferienlager wird daraufhin von den russischen Behörden immer wieder verschoben. Er wurde dort festgehalten, erzählt er.

Vom Feriencamp in Adoptivfamilien

Ihor schätzt, dass mehr als 1000 ukrainische Kinder mit ihm in Russland gewesen seien. Die Behandlung im Feriencamp sei "gut" gewesen, erzählt Ihor. Es habe keine Gewalt und keine Umerziehungsversuche gegeben.

Aber eine Begleiterin habe angekündigt, ihn und andere an russische Adoptivfamilien oder Pflegeheime weiterzuschicken. Außerdem habe es im Ferienlager Gerüchte gegeben, dass diejenigen, die in Russland bleiben möchten, Geld erhalten würden.

Ihor und Natalya Lysevych

Mutter Natalja Lysevych hatte Angst, ihren Sohn nie wiederzusehen. Um ihn nach Hause zu holen, musste sie persönlich nach Russland reisen.

Tausende Kilometer, um Ihor zu retten

Der Kontakt zwischen Ihor und seiner Mutter brach zwischenzeitlich ab. Sie erzählt, sie habe Angst gehabt, ihren Sohn nie wiederzusehen. Für sie sei es "ein Schock" gewesen, ihr eigenes Kind in diese Ferien geschickt zu haben, "ohne zu wissen, wie diese enden würden".

Über die Hilfsorganisation SOS Kinderdorf Ukraine erfährt sie schließlich, wie sie ihren Sohn nach Hause holen kann. Dazu muss sie persönlich nach Russland reisen und ihn abholen. Die Planung und Reisekosten übernimmt die Hilfsorganisation. Lysevychs Strecke führt über Polen und Belarus bis über die russische Grenze. Von dort muss sie weiter nach Moskau und dann nach Südrussland, nach Anapa, zu Ihor. Es sind tausende Kilometer, eine zweiwöchige Reise.

Unterwegs trifft sie Helfer und Fahrer der Organisation. Detailliert will Lysevych darüber aber nicht sprechen. Nach jedem Treffen mit Helfern löscht sie Fotos und Chatverläufe auf dem Handy, erzählt sie. Andere Mütter berichten, dass ihnen beigebracht worden sei, an Check-Points nur von "einem Besuch" ihrer Kinder zu sprechen, nicht von einem "Abholen".

In Anapa angekommen, sei Natalja Lysevych von den Betreuern Ihors gefragt worden, ob sie in Russland bleiben wolle. Auch andere Mütter, die in Russland waren, bestätigen solche Angebote. Nachdem sie einige Dokumente unterschrieben habe, habe sie Ihor aber problemlos mitnehmen können, so Lysevych.

"Rückholaktion ohne Zustimmung Russlands"

Insgesamt konnten bislang 323 verschleppte Kinder in die Ukraine zurückgeholt werden, sagt die ukrainische Kommissarin für Kinderrechte Daria Herasymchuk. Diese Rückholaktionen erfolgten ohne die Zustimmung Russlands, ohne Lösegeld und ohne Gegenleistung: "Das ist kein Austausch", so Herasymchuk.

Sie ist überzeugt, dass hinter den Verschleppungen von Kindern eine "klar und gut geplante" Strategie stehe. Ihre Analysen zeigten, dass ukrainische Kinder schnell eine russische Staatsbürgerschaft erhielten und dass Adoptionsprozesse verkürzt worden seien.

"Patriotische Bildungsprogramme"

Aber nicht immer gelingt es den ukrainischen Eltern und NGOs, Kinder zu retten. Daria Kasyanova von SOS Kinderdorf Ukraine berichtet, dass es schon "Verweigerungen" durch russische Camps oder Adoptivfamilien gegeben habe, obwohl die ukrainischen Verwandten alle notwendigen Dokumente dabei hatten.

Außerdem schildert sie die Erzählungen von Kindern, die gerettet worden sind. Vor allem Teenager würden demnach von Drohungen berichten, dass sie der russischen Armee beitreten müssten. Ihren Beobachtungen nach müssten viele der verschleppten ukrainischen Kinder ein "patriotisches Bildungsprogramm" durchlaufen, in dem anti-ukrainische Propaganda verbreitet werde.

Russland: "Rettung" vor Kriegswirren

Im russischen Fernsehen wird die Verschleppung der Kinder anders dargestellt. Dort heißt es sinngemäß, die Kinder würden vor den Kriegswirren in der Ukraine gerettet und durch Adoptiveltern eine sichere Zukunft bekommen. "380 Kinder" seien bereits in 20 Regionen des Landes gebracht worden, sagt die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belova in einem Interview mit dem kremlnahen Sender Zargrad.

Auch sie selbst habe einen fünfzehnjährigen Jungen aus Donezk adoptiert, sagt sie in einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Putin. Gegen beide, Lwowa-Belowa und Putin, läuft wegen ihrer mutmaßlichen Verantwortung für die Verschleppung der ukrainischen Kinder inzwischen ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs. Laut dem Kreml sei der Haftbefehl "rechtlich nichtig". Russland erkennt den Strafgerichtshof nicht an.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste am 26. März 2023 um 18:30 Uhr in der Sendung "Weltspiegel".