Ukraine Kindheit im Luftschutzraum
Auseinandergerissene Familien, Tausende zerstörte Schulen und Kindergärten - und dazu die ständige Angst vor neuen Bombardements. Der Krieg in der Ukraine hinterlässt tiefe Spuren im Leben der Kinder. Wie kommen sie damit zurecht?
In der kleinen privaten Kindertagesstätte am Stadtrand von Kiew sollten die Kleineren jetzt eigentlich Mittagsschlaf halten. Doch die Räume sind leer. Die Betten eben noch benutzt, als hätten die Kinder fluchtartig den Raum verlassen.
Sergii Gonchar, der Leiter der Einrichtung, bittet darum, ihm zu folgen. Die Kellertreppe hinab geht er zielstrebig in den Schutzraum - hierhin bringen sie die Kinder bei Luftalarm.
Ein Trickfilm läuft, der Raum ist verdunkelt. Als er das Licht anknipst - gerade gibt es Strom -, sieht man viele kleine Menschen auf dem Boden oder auf der Bank hocken.
Sie verstecken sich vor möglichen Bombenangriffen und schauen still ihren Film. Kindheit im Krieg: Was bedeutet das für die seelische Gesundheit der sieben Millionen Kinder im Land?
Er ist nicht kindgerecht, aber er bietet Schutz: In der umkämpften Stadt Bachmut suchen Familien Zuflucht in einem Trainingsraum für den Boxsport.
"Kein Zugang mehr zu geregelter Bildung"
3600 Schulen und Kindergärten wurden laut UNICEF bislang zerstört. Nach den gezielten Angriffen auf die Infrastruktur können viele Kinder auch nicht mehr am Online-Unterricht teilnehmen. "Kein ukrainisches Kind hat mehr Zugang zu geregelter Bildung", beschreibt das UN-Hilfswerk die Situation und weitet seine Präsenz im Land stark aus.
Unter den 6,5 Millionen Flüchtlingen im Land ist etwa jeder Fünfte minderjährig. Dass in dieser Kita tatsächlich Kinder sind und sie geöffnet hat, ist eine Ausnahme. Das liegt daran, dass sie privat finanziert ist.
Auch die Kleinen benutzen Warn-Apps
Im Nebenraum beschäftigen sich die etwas älteren Kinder. Tonya, mit langen gelockten Haaren, hat schon viele Luftalarme erlebt. Sie zeigt ihr Handy und erzählt von einem Telegram-Kanal, in den sie schaut, wenn sie Alarmsirenen hört: "Wenn er keinen Luftalarm anzeigt, bin ich ruhig, wenn er einen anzeigt, habe ich Angst." Das Wort Angst benutzt sie im Gespräch in kurzer Zeit gleich viermal.
Tonya ist sieben Jahre alt, jede Stunde schaut sie auf ihr Mobiltelefon. Wie die meisten Erwachsenen lebt auch sie mehr und mehr im Handy.
Militärbegriffe, ganz selbstverständlich
Ein anderes Kind im Raum fällt auf, weil es nicht lacht, es ist ernst und konzentriert. Arina verfügt bereits über einen großen militärischen Wortschatz. Raketen, Projektil, Bomben - all das verwendet sie sehr selbstverständlich.
Die Elfjährige, die mal Logopädin werden möchte, spricht schnell und sachlich. "Ich bin unglücklich, weil jetzt viele Menschen sterben. Raketen dringen in Häuser ein, fröhliche Menschen sterben, die ja einfach weiterleben könnten. Aber jetzt sterben sie."
Ihre Mutter hilft in der Kita, eine Universitätsdozentin, die ebenso ernst und sachlich wie Arina wirkt. Ihre Tochter spricht wie eine Erwachsene. Sie frage sich selber, sagt Arina, warum sie nicht mehr sie selbst sei.
Was bleibt von der Kindheit?
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat großflächig im ganzen Land Kontakt zu Kindern. In Kiew ist UNICEF gerade in ein größeres Büro umgezogen. Der Sprecher Mustapha Ben Messaoud macht sich auf den Weg in den Bunker, denn der Luftalarm geht los. Die Kinder hätten keine Kindheit mehr, beginnt er das Gespräch.
Draußen zu sein ist extrem gefährlich. Der ganze soziale Teil des Schullebens existiert für sie nicht mehr. Sie leben in dieser ständigen Angst, dass irgendwas in ihrem Haus landen könnte und ihnen und ihnen Eltern schadet. Dazu kommt noch, dass Familie getrennt sind, weil ein Mitglied kämpft. Und dann wächst die Zahl der Kinder, die Waisen sind.
UNICEF sei, sagt Ben Messaoud, mit etwa zwei Millionen Kindern in Kontakt gewesen. Man gehe davon aus, dass 1,5 Millionen dauerhaft psychologische Unterstützung brauchen.
Krieg, Stress, Krankheit
Psychologinnen wie Kateryna Goltsberg in Kiew sind also gerade besonders gefragt. Sie hat selber Kinder, eine kranke Mutter und dazu täglich etwa zehn junge Patienten und Patientinnen.
Manche Kinder hätten jetzt im Krieg vor lauter Stress Diabetes bekommen, Asthma. Andere Kinder würden sich völlig in sich selbst zurückziehen oder hätten große Angst vor lauten Geräuschen.
Spielend den Verlust verabreiten
Gerade Kinder, deren Haus zerstört wurde, würden als erstes auf das kleine Puppenhaus zugehen, wenn sie in ihre Praxis kämen.
Sie kommen dann dichter heran, manchmal weinen sie, wenn sie das Puppenhaus sehen. Weil es sie an etwas erinnert. Meistens sagen sie gar nichts. Und dann sage ich ihnen, dass wir das Haus neu bauen können - ganz, wie sie es sich vorstellen.
Sie hat kleine Holzplättchen und baut mit den Kindern ein Häuschen. Das habe eine therapeutische Wirkung. "Manchmal ist es für Erwachsene schwieriger, den Verlust zu überleben, weil sie das bewusster erleben. Kinder können dann toben, lachen, und das kann man ihnen nicht verbieten, denn es ist Kindheit."
Ihre Zeit ist knapp, draußen wartet schon ein Mädchen mit der Mutter darauf, mit ihr zu sprechen.
Bemühen um Stabilität
Die Mutter von Tonya - dem Mädchen aus der Kita, das regelmäßig Nachrichten im Handy checkt -, öffnet ihr Haus kurz für den journalistischen Besuch. Die Familie lebt auf einer Baustelle, denn als der Krieg begann, war der Bau noch nicht fertig.
Alles spielt sich im Wohnzimmer ab. Tetiana Prokhorova, Tonyas Mutter, bemüht sich um Stabilität und Optimismus. Auch sie berichtet von den Ängsten, die Tonya und ihre Schwestern haben.
Wenn man sich umschaut, fragt man sich, wo die Familie bei Alarm wohl Schutz sucht. Denn einen Keller hat das Haus nicht. Außer dem Zelt, dem Sofa und einem Puppenhaus sieht man nicht viel. "Hier im Zelt verstecken wir uns, es ist sicher. Wir sitzen und warten", sagt Tonya und krabbelt mit ihrer Schwester in das Zelt, um es zu zeigen. "Aber die Tür vom Zelt muss immer auf sein, damit wir schnell raus können und zum Sofa rennen können."
Spielen kann helfen, die Bedrohung nicht wahrzunehmen: Im Bahnhof von Cherson warten Kinder auf einen Zug, der sie nach Kiew bringen soll.
Schutz unter Kissen
Wenn sie es in einer ernsten Situation im Zelt nicht mehr aushalten, springen sie auf das Sofa. Die Mutter versucht dann, Kissen auf sie zu legen, um sie so vor Glassplittern zu schützen. Sie sitzen dort, bis Entwarnung kommt.
Die Mutter und die beiden Kinder wissen, dass der nächste Angriff jeden Moment kommen kann. Im Krieg müssen Kinder plötzlich groß werden. Obwohl sie klein sind.