Fehlende Medikamente in EU-Staaten Tödliche Preise
In der EU soll der Wohnort nicht über die Lebenserwartung entscheiden. Dennoch fehlen in vielen Ländern im öffentlichen Gesundheitssystem lebenswichtige Medikamente, wie Recherchen von NDR, WDR, SZ und "Investigate Europe" zeigen.
Jeden Morgen, bevor sie in den Kindergarten geht, muss die dreijährige Milda sich durchrütteln lassen. Sie zieht dazu eine motorisierte Weste an und erträgt die Prozedur bereitwillig, immerhin darf sie dabei auf ihrem Tablet kurze Filme schauen.
Milda lebt mit ihren Eltern in einem Reihenhaus im litauischen Kleipeda, einem Ort, den deutsche Touristen gelegentlich durchqueren, wenn sie das nahegelegene Sommerhaus von Thomas Mann besichtigen wollen. Die Dreijährige leidet an Mukoviszidose, einer Erbkrankheit, die dafür sorgt, dass der Schleim in den Bronchien nicht richtig abtransportiert wird. Die Weste, die Milda zweimal am Tag für eine halbe Stunde anzieht, soll das Kind durchrütteln, um so den Schleim zu lösen und ihr Leben zu verlängern.
Früher erreichten viele Kinder mit Mukoviszidose gerade einmal das Erwachsenenalter. Mit einem neuen Medikament könnten viele Jahrzehnte dazugewinnen. Das Medikament, das Milda viel besser helfen würde, heißt Kaftrio. Doch das können ihre Eltern ihr nicht geben.
17.000 Euro Behandlungskosten im Monat
Die litauische Regierung verhandelt derzeit zwar mit der US-Pharmafirma Vertex, dem einzigen Hersteller von Kaftrio. Doch der Preis, den Vertex verlangt, ist für die Gesundheitssysteme vieler Länder zu hoch. Mildas Eltern sind beide berufstätig, der Vater ist Chirurg, die Mutter Makeup-Artistin. Theoretisch könnten die Eltern Kaftrio aus dem Ausland besorgen.
Aber die 17.000 Euro, die die Behandlung im Monat kostet, können auch sie sich nicht leisten. "Es macht einen verrückt, wenn man herausfindet, dass andere Länder solche wunderbaren Medikamente haben und man selbst zurückgelassen wird", sagt Mildas Mutter.
Carsten Schwarz, ärztlicher Leiter des Mukoviszidose-Zentrums am Klinikum West-Brandenburg in der Nähe von Berlin, sagt: "Wenn man diese Medikamente nicht gibt, kostet das Patienten im Schnitt 20 Lebensjahre."
Gleicher Zugang zu Medikamenten in der EU als Vorgabe
Das Schicksal von Patienten wie Milda macht klar, wie ungleich die Lebenschancen innerhalb der Europäischen Union bis heute verteilt sind. "Wo du lebst, soll nicht darüber entscheiden, ob du lebst oder stirbst", erklärte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides im vergangenen Jahr.
Alle Patienten in der EU sollen "frühzeitigen und gleichen Zugang zu wirksamen Medikamenten" haben. Doch von diesem Ziel ist Europa weit entfernt, wie eine Recherche des europäischen Journalistenteams "Investigate Europe" zeigt, an der auch NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung (SZ) über Monate mitgearbeitet haben.
Doch wie groß sind die Ungleichheiten in der EU wirklich? Zunächst ging es darum, jene Medikamente zu identifizieren, die tatsächlich einen deutlichen Vorteil gegenüber bisherigen Präparaten haben. Die Pharmaindustrie wirft jedes Jahr rund 40 neue Mittel auf den Markt, die meisten davon zu extrem hohen Preisen. Doch nur die wenigsten dieser Neuheiten bringen auch wirklich einen therapeutischen Fortschritt.
Im Auftrag der Recherche-Kooperation wählte das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) unter allen Neuzulassungen der vergangenen fünf Jahre jene 32 Medikamente aus, die einen "erheblichen" oder "beträchtlichen Zusatznutzen" für Patienten haben. Bei den meisten dieser Präparate handelt es sich um moderne Krebsmedikamente, aber auch Mittel gegen Migräne, Mukoviszidose oder Diabetes finden sich auf der Liste.
Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, hat die Liste überprüft und sagt, wenn diese Medikamente nicht angewendet werden, verschlechtern sich die Behandlungsmöglichkeiten der betroffenen Patienten.
Viele kleine Länder betroffen
Die Reporter recherchierten daraufhin in jedem der 27 EU-Länder, wie viele dieser oft sehr teuren Medikamente für Patienten der staatlichen Gesundheitssysteme fehlen, welche also nicht von den dortigen Krankenkassen übernommen werden. Von den insgesamt 32 Arzneimitteln werden demnach nur in Deutschland und Österreich alle von den Krankenkassen bezahlt. In Estland, Lettland und Litauen hingegen fehlen für die Patienten im öffentlichen Gesundheitswesen rund 30 Prozent, in Zypern fehlt die Hälfte, in Malta sogar 59 Prozent und in Ungarn sogar drei Viertel der wichtigen neuen Medikamente.
Erki Laidmäe, Leiter der Arzneimittelbehörde in Estland, sagt, ein Grund für das Fehlen vieler Medikamente auf der staatlichen Erstattungsliste sei, dass viele Pharmafirmen ihre Medikamente gar nicht auf den Markt brächten, wenn der Marktanteil klein zu bleiben droht. Zwar könnten die Medikamente dann im europäischen Ausland beschafft werden, das aber dann zu so hohen Listenpreisen, das dies für viele Länder nicht bezahlbar ist.
Litauen ist mit 2,8 Millionen Einwohnern nur unwesentlich größer als Estland. Julijanas Galisanskis vom dortigen Gesundheitsministerium bestätigt, dass in Litauen neun von 32 Präparaten der IQWiG-Liste für eine Erstattung im staatlichen Gesundheitssystem fehlen. Bei einem kleineren Teil davon verhandelt die litauische Regierung derzeit mit den Pharmafirmen über den Preis, zum Beispiel bei Kaftrio, das die dreijährige Milda dringend bräuchte. Doch bei den meisten der fehlenden Präparate hätten die Konzerne nicht mal einen Antrag auf Erstattung in Litauen gestellt.
Intransparenz bei Preisen
Um möglichst hohe Preise zu erzielen, nutzen Pharmafirmen oftmals eine ebenso einfache wie wirksame Strategie: Sie verlangen von den nationalen Gesundheitsbehörden und Krankenkassen, die tatsächlich bezahlten Preise geheim zu halten. Die nationalen Unterhändler müssen dann Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen. So verhindern die Pharmamanager, dass sie die Rabatte, die sie einigen Ländern gewähren, auch anderen Staaten anbieten müssen.
Der frühere zyprische Gesundheitsminister Giorgos Pamborides sagt, dass diese Geheimnistuerei ein Missbrauch der Marktmacht der Industrie sei. Sie würden einzelne Länder gegeneinander ausspielen, "indem sie uns in getrennte Räume sperrt". Er erinnert sich, dass Zypern in seiner Zeit als Gesundheitsminister "doppelt, dreifach oder sogar fünfmal so hohe Preise wie andere Länder zahlte".
Da die Preise geheim gehalten werden, versuchte das Rechercheteam aus NDR, WDR, SZ und "Investigate Europe", am Beispiel der Mukoviszidosemedikamte der Firma Vertex die Preise für mehrere EU-Staaten zu ermitteln. Dazu setzten die Reporter Umsatzzahlen der Firma, Patientenzahlen und Daten von Krankenkassen zusammen.
Diesen Berechnungen zufolge zahlte Italien pro Patient und Jahr geschätzt 70.000 und Frankreich 66.000 Euro. Im kleinen, aber ärmeren Lettland könnten die Kosten hingegen 135.000 Euro und in Tschechien 140.000 Euro betragen. Vertex nennt die Preise auf Anfrage "unrichtig" und betont zudem: "Erstattungspreise werden nicht einseitig vom Hersteller festgelegt, sondern vertraulich mit den Gesundheitsbehörden in jedem Land vereinbart."
Außerdem seien die Preise gerechtfertigt, weil nach eigenen Angaben 20 Jahre an dem Medikament geforscht worden sei und sie mehr als zehn Milliarden Kosten aufgebracht hätten. Der allergrößte Teil der Gewinne fließe in weitere Forschung. Das Mittel war ursprünglich unterstützt mit öffentlichen Fördergeldern von einer kleineren Firma entwickelt worden, die am Ende von Vertex gekauft wurde.
Klagen auf Kostenerstattung
Besonders schlimm ist die Not der Krebspatienten in Rumänien. Nicht nur werden gleich sechs neue Krebsmedikamente nicht erstattet und sind damit unerreichbar für die Betroffenen, deren Ärzte ihnen diese Mittel gerne verschreiben würden. Zugleich fehlt dem Gesundheitswesen des Landes vielfach auch das Geld, um jene innovativen Medikamente zu bezahlen, die längst zur Erstattung zugelassen ist. Das berichtet der Onkologe und Leiter der nationalen Krebskommission des Landes, Michael Schenker.
Darum habe der Präsident der nationalen Krankenversicherung die Regierung aufgefordert, das Arzneimittelbudget seiner Kasse gegenüber 2023 zu verdoppeln, nicht zuletzt, um das längst beschlossene Programm zur Bekämpfung von Krebserkrankungen in die Praxis umzusetzen. Aber die Regierung habe die Forderung unter Verweis auf die leere Staatskasse zurückgewiesen.
In der Folge, so Schenker, würden immer mehr Patienten auf Rat ihrer Ärzte bei Gericht auf Erstattung der Kosten für die verschriebenen Arzneien klagen. Allein im Jahr 2023 seien für mehr als 1.000 Patienten auf Beschluss der Richter dann auch tatsächlich die Medikamente auf Staatskosten beschafft worden. Auch dieses Jahr würden es gewiss wieder so viele sein. Allein in seiner Klinik in der Stadt Craiova seien derzeit mindestens zehn solcher Fälle anhängig.
Ob und wie viele Patienten womöglich gar keinen Zugang bekommen, weil ihnen die Bildung und der Zugang zu Anwälten fehlen, oder der Arzt den Aufwand fürs Gericht scheut, vermag Schenker nicht zu sagen. Klar aber sei, dass dieses Verfahren den Staat sehr teuer zu stehen komme. Denn der gerichtlich erzwungene Kauf in den Apotheken erfolge zu Listenpreisen, und die seien hoch. "Im Durchschnitt kosten die neuen Krebsmittel bei uns 6.000 bis 7.000 Euro pro Patienten und Monat", sagte Schenker.
Hohe Umsatzrenditen
In Deutschland haben sich die Kosten für neue patentgeschützte Arzneimittel zwischen 2013 und 2022 von 13,9 auf 27,8 Milliarden Euro verdoppelt. Vor allem Gentherapeutika würden zum "Systemsprenger", warnte jüngst die Techniker Krankenkasse. Das liegt auch daran, dass die Pharmakonzerne am Ende am längeren Hebel sitzen: Entweder bezahlen die Staaten die geforderten Preise, oder die Firma geht mit dem Medikament nicht auf den Markt.
Pharmahersteller argumentieren dagegen immer wieder, dass die geforderten Preise dem Wert entsprächen, den die neuen Medikamente für die betroffenen Patienten und das Gesundheitssystem insgesamt haben.
Allerdings könnte die Industrie ganz offensichtlich auch mit niedrigeren Arznei-Preisen noch hervorragend leben, wenn sie sich mit anderen Branchen vergleicht. Eine Marktanalyse der Unternehmensberatung EY hat die durchschnittlichen Unternehmensgewinne aufgelistet. Demnach kamen die globalen Pharmakonzerne 2020 auf eine Umsatzrendite von durchschnittlich 25,7 Prozent. Das ist weit über den Renditen aller anderen Industriebranchen. Selbst Großbanken können von solchen Renditen nur träumen.