Eine Wissenschaftlerin bei der Arbeit in einem molekulargenetischen Labor.
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Pharma-Standort Deutschland Zu langsam für die Forschung?

Stand: 07.02.2023 15:26 Uhr

Das Biotech-Unternehmen BioNTech siedelt Forschung auch in Großbritannien an. Die Pharmaindustrie beklagt bürokratische Hürden bei deutschen Arzneimittel-Studien. Machen andere Länder es besser?

Eine Analyse von Peter Sonnenberg, SWR

Anfang des Jahres landete eine Pressemitteilung des Mainzer Biotechnologie-Unternehmens BioNTech in den Redaktionen: Die mit ihrem Covid-19-Impfstoff bekannt gewordene Firma kündigte "eine strategische Partnerschaft mit der Regierung des Vereinigten Königreichs" an. Tags drauf erschienen in einigen Zeitungen und auf zahlreichen Twitterkanälen deutscher Politiker besorgte Meldungen, BioNTech würde "Forschung ins Ausland verlegen, seine Krebsforschung woanders aufbauen, den Forschungsstandort Deutschland nicht mehr stärken".

"Beispielhaft zusammengearbeitet"

Dem ist nicht so - noch nicht. Denn alles, was bisher in Deutschland - also an den Standorten Mainz und Marburg - passiert, wird dort bleiben. Im britischen Cambridge möchte das Unternehmen allerdings noch im ersten Quartal 2023 in ein Forschungs- und Entwicklungszentrum investieren und dort nach und nach 70 Wissenschaftler beschäftigen, um die Umsetzung von klinischen Studien mit personalisierten mRNA-Immuntherapien zu beschleunigen.

Dennoch sollte der Schritt und vor allem die Begründung von BioNTech die deutschen Politiker aufhorchen und ihren Umgang mit Forschenden selbstkritisch hinterfragen lassen. Ugur Sahin, Chef und Mitbegründer von BioNTech, begründet seinen Schritt mit den besseren Forschungsbedingungen in Großbritannien, die das Land auch bei der Erforschung und Genehmigung von Corona-Impfstoffen unter Beweis gestellt habe: "Das Vereinigte Königreich konnte Covid-19-Impfstoffe so schnell bereitstellen, weil der Nationale Gesundheitsdienst, akademische Forschungseinrichtungen, die Aufsichtsbehörde und der Privatsektor beispielhaft zusammengearbeitet haben."

Sahin sagt, er könne dort klinische Studien an Patienten für personalisierte mRNA-Krebsimmuntherapien und Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten schneller umsetzen. Die Vereinbarung mit der britischen Regierung sei ein Ergebnis der Lehren aus der Corona-Pandemie: "Wir haben gesehen, dass die Entwicklung von Arzneimitteln beschleunigt werden kann, ohne dabei Abkürzungen zu nehmen, wenn alle nahtlos zusammen auf das gleiche Ziel hinarbeiten." Was er nicht gesagt hat, was aber aus diesen Worten klingt, ist, dass dies offenbar in Deutschland nicht der Fall ist.

Auch künftig genug qualifizierte Beschäftigte?

Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) macht, nach den Vor- und Nachteilen des Forschungsstandortes Deutschland befragt, zahlreiche Hürden aus, die Wissenschaftler hier zu nehmen haben: "Diese betreffen Forschungsbedingungen, eine überbordende Bürokratie, aber auch die Anerkennung des medizinischen Wertes neuer Medikamente im deutschen Gesundheitswesen."

Der vfa kritisiert in diesem Zusammenhang, dass die Regierung steigende Zusatzbeiträge und Leistungskürzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung verhindert habe: "Hier ist das seit Januar gültige Finanzstabilisierungsgesetz für die gesetzlichen Krankenkassen ein Rückschritt für Innovationen in Deutschland. Denn die kurzfristigen Sparmaßnahmen haben langfristige Folgen für den Standort und die Versorgung: Investitionen werden ausbleiben. Innovationsanstrengungen werden künftig zurückgefahren. Hochqualifizierte Jobs dürften in substanzieller Zahl abgebaut werden."

Auf der Haben-Seite nennt der Verband hauptsächlich die "20.000 hochqualifizierten Mitarbeiter in Forschung und Entwicklung". Doch wenn diese Mitarbeiter nicht frei von beeinträchtigenden Faktoren arbeiten können, kann die beste Ausbildung nicht den maximalen Effekt bringen.

Kanzler verweist auf Gesetzesvorhaben

Die Forderungen des Verbandes betreffen interessanterweise auch den Arbeitsbereich, den BioNTech zukünftig auch im Ausland ansiedeln wird: "Dringend verbessert werden müssten in Deutschland die Rahmenbedingungen für klinische Arzneimittelstudien, für die Entwicklung von Gen- und Zelltherapien und für die Möglichkeiten der industriellen Forschung, anonymisierte Daten von Patientinnen und Patienten auswerten zu können. Letzteres dürfte zu neuen Medikamenten und einer sichereren Arzneimittelanwendung beitragen".

Vor ein paar Tagen stattete Bundeskanzler Olaf Scholz, möglicherweise aufgeschreckt von den Nachrichten aus dem Unternehmen, BioNTech einen Besuch im Standort Marburg ab. Er erwähnte "viele konkrete Gesetzesvorhaben", die Forschung in Deutschland erleichtern sollen - allerdings ohne konkret zu werden. Sahin verwies im Gegenzug auf ständige Expansionen, die BioNTech auch in Mainz und Marburg vorantreibe, blieb auf Nachfrage aber unklar: "Wenn es so weit ist, werden Sie es wissen."

Überhaupt ist BioNTech nicht gewillt, seine Auslandspläne näher zu erörtern. Eine entsprechende Nachfrage von tagesschau.de blieb unbeantwortet: "Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt leider keine weiteren Informationen, die über die Pressemitteilung hinausgehen."

"Wir brauchen eine Forschungslandschaft"

Kanzler Scholz spricht im Zusammenhang mit Innovationen neuerdings gerne vom "neuen Deutschland-Tempo". In Marburg sagte er: "Wir werden alles dafür tun, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die wir haben, damit alles schnell und zügig in Deutschland möglich ist, auch erhalten bleiben und verbessert werden. Wir brauchen eine Forschungslandschaft, die wir gemeinsam mit den Ländern in Deutschland stabilisieren und weiterentwickeln müssen, damit Grundlagenforschung in Deutschland stattfinden kann."

Das wird Zeit, findet der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen. Es sei zu beobachten, dass deutsche Top-Unternehmen für ihre Forschungslabore zunehmend auch andere Länder wählen. "Was Deutschland jetzt braucht, ist eine realistische Einschätzung der Lage und politische Entscheidungen, die es uns ermöglichen, im vorderen Feld der internationalen Pharmastandorte dabei zu bleiben", so der Verband. Nötig sei eine Entbürokratisierung klinischer Studien. "Egal ob Datenschutz oder Strahlenschutz: Zu viele Instanzen machen die Verfahren hierzulande zu kompliziert."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 04. Februar 2023 um 17:12 Uhr.