Nach Recherchen zu Krebsarzneien Kritik an Milliardenverschwendung
Mehrere große Krankenkassen fordern Transparenz und neue Gesetze bei der Finanzierung von Krebsmedikamenten. Recherchen von NDR, WDR und SZ hatten hohe Zusatzgewinne bei Apotheken aufgedeckt, die solche Medikamente herstellen.
Rund 500 Millionen Euro Beitragsgeld im Jahr könnten die Gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland bei der Finanzierung von Krebsmedikamenten einsparen, das hatten NDR, WDR, "Süddeutsche Zeitung" (SZ) und Monitor in der vergangenen Woche berichtet. Die Recherchen basierten auf bisher öffentlich nicht bekannten Preis-Listen von Großhändlern. Mehrere Krankenkassen fordern nun Konsequenzen.
NDR, WDR, SZ und Monitor hatten die Großhändler-Preislisten im Zuge der Recherchen an sämtliche gesetzliche Krankenkassen geschickt, damit sich diese ein Bild von den möglichen Einkaufsvorteilen der Apotheken machen können. Die IKK Brandenburg und Berlin erklärte nun, nach ihrer Auffassung müsse der Gesetzgeber an dieser Stelle Abhilfe schaffen: "Apotheken sollten per Gesetz verpflichtet werden, ihre Einkaufspreise offenzulegen und insgesamt für mehr Transparenz zu sorgen."
Forderung nach Gesetzesänderungen
Die Techniker Krankenkasse schreibt, sie fordere bereits seit Längerem, "dass auch im Zytostatika-Bereich Rabattverträge von Krankenkassen mit der pharmazeutischen Industrie geschlossen werden sollten, um die bestmöglichen Preise und hohe Liefersicherheit zu erzielen." Um dies zu ermöglichen, seien gesetzliche Anpassungen notwendig, "die eine praxisorientierte Umsetzung von Zytostatika-Rabattverträgen sicherstellen."
Der AOK-Bundesverband reagierte nach der Veröffentlichung mit einer eigenen Stellungnahme. Die AOK problematisiere die Einkaufsvorteile für Apotheken seit Jahren. "Die aktuell bekannt gewordenen Listen zeigen nun, dass es diese Vorteile tatsächlich immer noch gibt."
Die überteuerten Beträge gingen "voll auf Kosten der Beitragszahlenden", schreibt Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung beim AOK-Bundesverband. Sie fordert, Krebsmedikamente wieder regional ausschreiben zu dürfen. "Schon vor Jahren ging es um Einsparungen in Höhe von mindestens 600 Millionen Euro pro Jahr für die gesamte Gesetzliche Krankenversicherung."
Rabatte erlauben hohe Zusatzgewinne
Für die Recherche hatten Reporter Einblick in mehrere Preislisten mit den Apotheker-Einkaufspreisen für Hunderte Krebsmedikamente genommen. Die Listen zeigen, dass Chemotherapie herstellende Apotheker die Wirkstoffe zu Preisen einkaufen können, die deutlich unter dem Erstattungsbetrag der Krankenkassen liegen.
Chemotherapien werden meist als Infusionen verabreicht, die Infusionsbeutel mit den Wirkstoffen müssen für jede Patientin und jeden Patienten individuell zubereitet werden. Das können weniger als 300 Apotheken und Herstellerbetriebe in Deutschland, weil nur sie über keimfreie Reinräume verfügen.
Die Apotheken bekommen für diese Arbeit eine Pauschale von 100 Euro pro zubereitetem Infusionsbeutel von den Krankenkassen bezahlt. Damit sollten eigentlich sämtliche ihrer Kosten gedeckt und ein Gewinn erzielt sein. Tatsächlich können Krebs-Apotheken aber, wie die Recherche gezeigt hat, Hunderte, in Einzelfällen auch Tausende Euro pro Beutel hinzuverdienen.
Mehr Transparenz bei den Medikamentenpreisen
Nach der Veröffentlichung hatten sich zahlreiche Menschen bei NDR, WDR und SZ gemeldet, die selbst eine Krebstherapie durchmachen oder durchgemacht haben und sich für ihre Medikamentenpreise interessieren. Deshalb und um mehr Transparenz zu schaffen, legen die Redaktionen die Preise der umsatzstärksten Krebsmedikamente sowie die eigenen Berechnungen der möglichen Ersparnis für die Krankenkassen offen.
Riesiges Einsparpotential
Für die Berechnung nahmen die Reporter die fünf umsatzstärksten Wirkstoffe in den Blick, die im Rahmen von Chemotherapien verabreicht werden, und die nicht mehr patentgeschützt sind. 2021 waren das Bevacizumab (unter anderem gegen Darmkrebs), Trastuzumab (gegen Brustkrebs), Rituximab (unter anderem gegen Krebs im lymphatischen System), Paclitaxel (unter anderem gegen Lungenkrebs) und Pemetrexed (gegen Lungenkrebs).
Allein für diese fünf Wirkstoffe gaben die gesetzlichen Krankenkassen 2021 rund 850 Millionen Euro im ambulanten Bereich aus. Die Zahlen werden jedes Jahr vom GKV-Spitzenverband in den sogenannten GAmSi-Berichten veröffentlicht.
Den Großhändler-Preislisten zufolge können Apothekerinnen und Apotheker diese fünf Wirkstoffe für sehr viel weniger Geld einkaufen, als ihnen die Kassen dafür erstatten. Insgesamt ergibt sich für das Jahr 2021 demnach ein mögliches Einsparpotential von etwa 550 Millionen Euro. Für 2022 ergibt sich nach dieser Rechnung ein mögliches Einsparpotential von rund 420 Millionen Euro.
Krankenkasse bestätigt Einsparmöglichkeiten
Da sich die Berechnung nur auf die fünf umsatzstärksten, nicht mehr patentgeschützten Wirkstoffe bezieht, könnte das tatsächliche Einsparpotential noch höher sein. NDR, WDR und SZ haben ihre Berechnung im Detail einer großen gesetzlichen Krankenkasse vorgelegt. Die Experten dort hielten den Rechenweg für plausibel.
Der Verband der rund 300 Apotheker in Deutschland, die Krebs-Medikamente herstellen, hatte die Recherchen nach der Veröffentlichung als unzutreffend bezeichnet. Die im Beitrag genannte Zahl sei "falsch", schrieb der Verband der Zytostatika herstellenden Apothekerinnen und Apotheker (VZA) in einer Stellungnahme, weil das "Marktvolumen" von "Infusionstherapien", mit denen Apotheken hinzuverdienen können, insgesamt bloß bei 460 Millionen Euro jährlich liege.
Woher der VZA diese Zahlen nimmt, wird in der Stellungnahme nicht erwähnt. Eine Anfrage von NDR, WDR, "Süddeutscher Zeitung" (SZ) und Monitor dazu ließ der VZA unbeantwortet.
Ein Beispiel: Im Falle des Wirkstoffs Bevacizumab lag der zweitgünstigste Großhändlerpreis im Jahr 2021 für eine Packung mit 400 Milligramm bei 390 Euro. Die Kassen erstatteten der Apotheke für diese Packung aber rund 1108 Euro. Der Zusatzgewinn für diese Apotheken lag somit bei 718 Euro pro Packung. Das bedeutet: Rund 65 Prozent des Erstattungsbetrags waren ein Zusatzgewinn. Diese 65
Prozent hätten die Kassen demnach sparen können.
Insgesamt gaben die Kassen 2021 rund 322 Millionen Euro für den Wirkstoff Bevacizumab aus. 65 Prozent davon hätten sie theoretisch sparen können, also rund 209 Millionen Euro.
Das Einsparpotenzial bei den weiteren vier Wirkstoffen gestaltet sich entsprechend folgendermaßen:
- Trastuzumab: ca. 167 Millionen Euro
- Rituximab: ca. 99 Millionen Euro
- Paclitaxel: ca. 23 Millionen Euro
- Pemetrexed: ca. 59 Millionen Euro