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Interview

Virologin zu Corona-Maßnahmen "Jetzt nicht locker lassen"

Stand: 25.06.2020 07:53 Uhr

Um eine neue Corona-Welle zu verhindern, hilft nur, den Ausbruch lokal einzukapseln, sagt Virologin Brinkmann im tagesschau.de-Interview - auch durch Reisebeschränkungen. Sonst könnten alle bisherigen Anstrengungen umsonst gewesen sein.

tagesschau.de: Wie erklären Sie sich die enorm hohe Zahl an Infizierten bei dem Corona-Ausbruch bei Tönnies?

Melanie Brinkmann: In Fleischbetrieben, besonders in den Zerlegungsbereichen, wo das Infektionsgeschehen gehäuft aufzutreten scheint, kommen mehrere Faktoren zusammen, die die Verbreitung von Sars-CoV-2 begünstigen können: Viele Menschen arbeiten auf engem Raum und es ist schwierig oder sogar unmöglich, den Abstand einzuhalten, weil die Arbeit Hand in Hand gehen muss.

Außerdem ist es dort wegen der Maschinen laut, das heißt, man muss laut sprechen, um sich zu verständigen. Hinzu kommt, dass bei der körperlich anstrengenden Arbeit heftiger geatmet wird. Dann sind die Zerlegebereiche geschlossene Räume ohne natürliche Belüftung und ohne natürliches Licht, und es herrschen niedrige Temperaturen dort. Viele Viren sind außerhalb unseres Körpers recht stabil bei niedrigen Temperaturen, und UV-Licht gibt es in diesen Arbeitsbereichen auch nicht, was die Viren abtöten könnte.

Tönnies ist nicht der erste Fall in Deutschland, und auch in Fleischfabriken im Ausland sehen wir eine Vielzahl ähnlicher Ausbrüche. Nun ist Tönnies ein sehr großer Betrieb mit mehreren Tausend Mitarbeitern, da kann es schnell zu so einem großen und dramatischen Ausbruchsgeschehen kommen.

Virologin Melanie Brinkmann bei "Anne Will" (Archiv)
Zur Person

Melanie Brinkmann leitet seit 2010 die Nachwuchsgruppe "Virale Immunmodulation" am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung. Seit 2018 ist sie Professorin am Institut für Genetik an der TU Braunschweig.

tagesschau.de: Heißt das, die prekären Wohnverhältnisse vieler Werkvertragsmitarbeiter spielen eine untergeordnete Rolle?

Brinkmann: Ich denke, man sollte den Hauptfokus nicht zu sehr auf die Wohnsituation lenken. Auch in den USA arbeiten viele Menschen in solchen Betrieben, wo es auch größere Ausbrüche gab - und die leben nicht in größeren Unterkünften. Außerdem sind das in Deutschland ja auch keine Massenunterkünfte, wo Hunderte Menschen zusammenleben, sondern eher kleinere Personengruppen. Das kann nicht dieses massive Ausbruchsgeschehen in so kurzer Zeit erklären. Aus infektiologischer Sicht scheint das Wohnumfeld nicht der entscheidende Faktor für die Geschwindigkeit solcher Ausbrüche zu sein.

"Es ist richtig, Reiseaktivitäten zu beschränken"

tagesschau.de: Was wäre aus virologischer Sicht jetzt das beste Handeln?

Brinkmann: Wenn es zu solchen Ausbruchgeschehen kommt, muss man schnell und breit testen und sehr zügig die Fälle nachverfolgen und Quarantäne anordnen. Und da ist es wichtig, dass die Bevölkerung mitarbeitet und diese Kraftanstrengung der Gesundheitsämter mitträgt, denn sonst wird sich das Virus möglicherweise rasant weiter ausbreiten.

Die Frage ist jetzt, wie gut das Gesundheitsamt die Fälle nachverfolgen kann. Wir hatten ja auch bei Westcrown in Niedersachsen einen Ausbruch. Da waren 92 von 300 Mitarbeitern infiziert. Das ist eine Zahl, die das dortige Gesundheitsamt noch gut bewältigen konnte. Ob das bei mehr als 1500 Fällen in NRW jetzt auch so ist, weiß ich nicht, es ist auf jeden Fall eine Herausforderung.

tagesschau.de: Welche konkreten Maßnahmen sind in so einem Fall am zielführendsten?

Brinkmann: Bei so hohen Infektionszahlen ist ein lokaler Lockdown sicherlich richtig und wichtig, um eine mögliche weitere Ausbreitung zu verhindern und wertvolle Zeit für die Nachverfolgung zu gewinnen. Das Geschehen muss lokal möglichst eingekapselt werden, ansonsten ist die Gefahr einer flächendeckenden Ausbreitung sehr hoch. Es ist also richtig, die Reiseaktivitäten zu beschränken. Denn gerade wenn Menschen symptomfrei sind und nicht merken, dass sie infiziert sind, könnten sie das Virus weit verbreiten.

"Zweite Welle könnte im Herbst kommen"

tagesschau.de: Wenn die Temperatur so ausschlaggebend ist, wie hoch schätzen Sie die Gefahr einer zweiten Welle im Herbst/Winter ein, wenn in Deutschland die Temperaturen wieder fallen?

Brinkmann: Diese Gefahr ist vor allem dann groß, wenn zum Herbst einerseits Maßnahmen weiter gelockert werden und wir uns gleichzeitig wieder mehr in geschlossenen Räumen aufhalten. Viele respiratorische Viren weisen eine gewisse Saisonalität auf - für Sars-CoV-2 kann man annehmen, dass es sich ähnlich verhält, und dass es im Herbst/Winter wieder zu erhöhten Infektionszahlen kommt, einfach weil sich unser Leben wieder mehr nach drinnen verlagert und wir wieder enger zusammenrücken.

Wir haben im Sommer viele Aktivitäten nach draußen verlagert, und dadurch kann es tatsächlich zu weniger Ansteckungen kommen oder zu Ansteckungen mit einer geringeren Virusdosis, was womöglich zu milderen oder symptomfreien Verläufen beiträgt. Wenn all das im Herbst nicht mehr der Fall ist und das Alltagsverhalten der Menschen wieder fast so wäre wie vor der Coronazeit, ist eine zweite Welle leider wahrscheinlich.

In manchen Ländern sehen wir jetzt schon eine zweite Welle auch im Hochsommer, zum Beispiel in Israel. Die Immunität der deutschen Bevölkerung ist schlichtweg in einem ganz niedrigen Bereich und wird uns nicht schützen können.

"Wir müssen in Alarmbereitschaft bleiben"

tagesschau.de: Was ist also zu tun?

Brinkmann: Zum Herbst hin wird entscheidend sein, dass wir unsere Kontakte weiterhin reduzieren, nachvollziehen können und zum Beispiel auch Abstand halten und Masken tragen. Und politisch wird wichtig sein, nicht an allen Enden zu lockern. Veranstaltungen mit vielen Menschen sind leider ein guter Nährboden für das Virus und die Ausbreitung kann wieder sehr rasant sein. Wir müssen in Alarmbereitschaft bleiben. Wir müssen die Zeit bis zum Herbst jetzt auch gut nutzen, um uns noch besser vorzubereiten.

"Sonst könnte alles umsonst gewesen sein"

tagesschau.de: Was heißt das genau?

Brinkmann: Beispielsweise, indem genau untersucht wird, welchen Einfluss unterschiedliche Belüftungsanlagen etwa in Fabriken auf die Ansteckung haben, um dann entsprechend gegenzusteuern. Oder genau zu untersuchen, ob wirklich der Unterricht im Klassenraum zum Superspreading-Ereignis werden kann. So etwas braucht Zeit.

Generell kann man schon jetzt sagen, dass intensives Lüften eine Infektionsgefahr in geschlossenen Räumen reduzieren kann. Zum anderen würde helfen, wenn möglichst viele die Corona-Warn-App haben. Damit etwaige Ausbruchsgeschehen schneller nachvollzogen und eingedämmt werden können.

Vielleicht ist auch etwas Gutes daran, dass dieser Tönnies-Ausbruch jetzt stattfindet. Das erinnert uns daran, dass es immer eine latente Gefahr gibt. Wenn wir jetzt locker lassen, könnten viele Anstrengungen, die wir bisher unternommen haben, umsonst gewesen sein.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.

Das Interview führte Sandra Stalinski, ARD-aktuell