Zustand der Bundeswehr Warum der Wehrbericht ein Warnsignal ist
Um die Bundeswehr ist es schlecht bestellt - der Bericht der Wehrbeauftragten zeigt die Mängel und Defizite. Doch eines ist in diesem Jahr anders.
Eigentlich ist es ein geübtes Ritual seit Jahren: Die Wehrbeauftragte des Bundestages stellt ihren Bericht vor und die Öffentlichkeit nimmt mit einer diffusen Mischung aus Spott und Entrüstung zur Kenntnis, wie schlecht es um die Bundeswehr bestellt ist. Marode Kasernen, fehlende Ausrüstung, peinliche Beschaffungspannen - daran haben sich die Deutschen fast schon gewöhnt.
Krieg an der NATO-Außengrenze
All das steht auch in diesem Jahr wieder im Bericht für 2022, aber etwas ist anders im Jahr 1 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine: Die haarsträubenden Fehlentwicklungen, die Verwaltung des Mangels, von denen die Soldatinnen und Soldaten der Wehrbeauftragten Eva Högl berichten - all das ist plötzlich so gar nicht mehr egal. Es herrscht Krieg an der Außengrenze der NATO und die Drohungen des Aggressors reichen weiter.
So ist es ein deutliches Warnsignal, wenn die Wehrbeauftragte schreibt, das 100-Milliarden-Sondervermögen könne nur ein "Zwischenschritt" sein auf dem Weg zu einer vollständig einsatzbereiten Bundeswehr. Noch sei aber von diesem Sondervermögen kein Cent bei den Soldatinnen und Soldaten angekommen - und das ein Jahr nach der sogenannten Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers.
Geld ist nicht das einzige Problem
"Die Lastenbücher der Truppe sind voller geworden, die Bekleidungskammern, Munitionsdepots und Ersatzteillager hingegen nicht", schreibt Högl, das Beschaffungswesen sei nach wie vor zu behäbig. Es brauche allein einen zweistelligen Milliardenbetrag, um die Munitionsbestände wieder aufzufüllen und Munitionslager zu bauen.
Doch dafür sind keine Gelder aus dem Sondervermögen vorgesehen, das alles muss aus dem Verteidigungsetat finanziert werden. Der Koalitionskrach über die Eckpunkte des neuen Bundeshaushaltes zeigt aber schon, wie schwierig es für Verteidigungsminister Boris Pistorius wird, dem gerecht zu werden - allen öffentlichen Beteuerungen seiner Kabinettskollegen zum Trotz.
Kasernen in "erbärmlichem Zustand"
Dabei ist Geld ohnehin nicht das einzige Problem: "Zu viele Kasernen in Deutschland sind in einem erbärmlichen Zustand", so Högl. Würde das derzeitige Tempo beibehalten, wäre die jetzige Infrastruktur der Bundeswehr erst in einem halben Jahrhundert komplett modernisiert. Vor allem aber gelte es, die Reform der Beschaffungsprozesse mit Hochdruck zu beschleunigen: "Mehr Ideen abseits der eingefahrenen Verfahrenswege könnten das Tempo weiter erhöhen", meint die SPD-Politikerin und schlägt vor, zumindest zeitweise sogar auf das bestehende Regelwerk zu verzichten.
Für den beschleunigten Bau der Flüssiggasterminals habe Scholz den Begriff des "Deutschland-Tempos" ins Spiel gebracht. "Diese Worte des Kanzlers sollten ebenso für die Verteidigung gelten, auch hier braucht es ein Deutschland-Tempo", meint die Wehrbeauftragte.
Zehn Jahre warten auf einen Helm
Und dabei denkt Högl wohl auch an die ebenso kuriosen wie erschütternden Geschichten, die sie von ihren zahlreichen Truppenbesuchen mit nach Hause brachte: So schilderten ihr Soldaten des Hubschraubergeschwaders 64, dass sie seit nunmehr zehn Jahren auf einen - marktverfügbaren - Fliegerhelm warten würden.
Zunächst hätten die Anforderungen von Heer, Luftwaffe und Marine an den Helm aufeinander abgestimmt werden müssen. Als besonders "zeitraubend" aber habe sich erwiesen, dass eine "luftfahrtrechtliche Musterzulassung" für sieben unterschiedliche "Hubschraubermuster" erforderlich gewesen wäre, wie es in Högls Bericht süffisant heißt.
Die Bürokratie - der natürliche Feind des "Deutschland-Tempos". Seit 2013 ist der Hubschrauber-Helm ein Thema für die Truppe - im dritten Quartal dieses Jahres kann die Besatzung nun auf das überlebenswichtige Gerät hoffen. Nach zehn quälend langen Jahren.
Wie kann die Bundeswehr attraktiver werden?
Doch die Truppe hat nicht nur mit einem Material- sondern auch mit einem Personalproblem zu kämpfen: Zwar versuchte das Bundesverteidigungsministerium erst vor wenigen Tagen Zuversicht zu verbreiten: "Zahl der Bundeswehrrekruten 2022 deutlich gestiegen", hieß es in Agenturmeldungen. Doch im Bericht der Wehrbeauftragten klingt das alles deutlich nüchterner: Zum Ende des Jahres habe die Personalstärke der Bundeswehr bei knapp über 183.000 gelegen - und damit unter dem Niveau von 2021, rechnet die SPD-Politikerin vor. Es sei noch "ein langer Weg", die Zielmarke von 203.000 bis zum Jahr 2031 zu erreichen.
Wie aber soll das gelingen? Die SPD-Politikerin vermeidet es, in ihrem 150 Seiten schweren Bericht eine erneute Debatte über die Reaktivierung der Wehrpflicht anzuzetteln. Stattdessen wirbt sie dafür, die Bundeswehr zu einem attraktiveren Arbeitgeber zu machen - und zwar gerade auch für Frauen. Im "Werben um geeignete Frauen" sieht Högl einen wichtigen Baustein, das gesteckte Personalziel Anfang des kommenden Jahrzehnts doch noch zu erreichen. Doch auch dieser Weg ist noch weit: "Wenn es aber schon an Selbstverständlichkeiten wie Toiletten und Duschräumen für Frauen und der erforderlichen personellen Ausrüstung fehlt, stellt sich schon die Frage der Wertschätzung", merkt die Wehrbeauftragte kritisch an.
Noch beunruhigender: Die Zahl der sexuellen Übergriffe innerhalb der Truppe, oft unter Alkoholeinfluss, hat im Jahr 2022 wieder zugenommen - 80 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Dem chronischen Personalmangel lässt sich mit Zahlen wie diesen nur schwer entgegenwirken.
Wird der Weckruf diesmal erhört?
Der Angriff Russlands auf die Ukraine habe den "Menschen in Deutschland vor Augen geführt, wofür wir die Bundeswehr brauchen", schreibt die Wehrbeauftragte. Die Truppe erfahre seither zunehmend Respekt und Aufmerksamkeit.
Doch dass sich dieses gesteigerte Interesse bemerkbar gemacht hätte bei ihrer Ausstattung und Ausrüstung, können die Soldatinnen und Soldaten bislang nicht behaupten. Auch ein Jahr nach der "Zeitenwende"-Rede nicht. Dass Eva Högls papiergewordener Weckruf diesmal erhört wird, dafür gibt es keine Garantie.