Besuch in Skandinavien Pistorius wirbt für die Wehrpflicht
Pünktlich zum lange verzögerten NATO-Beitritt Schwedens war Verteidigungsminister Pistorius in Skandinavien unterwegs. Dabei war auch von einer Wehrpflicht die Rede, wie es sie in Deutschland seit Jahren nicht mehr gibt.
Was hat ein weißer Regenschirm auf einem militärischen Schneemobil zu suchen? Das fragt sich auch Verteidigungsminister Boris Pistorius bei seinem Besuch des skandinavischen Großmanövers "Nordic Response". Er besucht die verschneite Zeltstadt deutscher Gebirgsjäger beim Kleinstädtchen Alta, am Nordzipfel Norwegens.
Die Antwort: Wer sich im Schnee hinter dem aufgespannten Schirm anschleicht, ist für die gegnerische Wärmebildkameras unsichtbar, erklärt einer der Gebirgsjäger. Und zwar dank der Luftschicht zwischen Mensch und Schirm. Ausgedacht haben sich das angeblich die notgedrungen erfindungsreichen Ukrainer.
Wie lange dort sonst wohl ein Scharfschütze überlebe, fragt der Kompaniechef. Höchstens zwei Stunden, schätzt Gebirgsjäger Toni, der selbst Scharfschütze ist. Weiße Regenschirme gibt es nicht beim Beschaffungsamt der Bundeswehr. Und so führt ein unscheinbarer Schirm direkt zu den großen Problemen des Verteidigungsministers: Russlands Krieg gegen die Ukraine, die Finanzierung der Bundeswehr und die Reform des Verteidigungsapparates.
Dreimal Skandinavien, dreimal NATO
Dreimal Skandinavien: Schweden, Norwegen, Finnland. Das bedeutet: dreimal NATO. Seit Donnerstagabend ist auch Schweden nach fast zweijährigen Verhandlungen offiziell dabei.
Während Pistorius zu einem Empfang in die deutsche Botschaft in Helsinki eingeladen hat, gibt es zeitgleich eine kleine Feier zu Ehren des 32. Mitglieds im Verteidigungsbündnis. Leider habe er den Beitritt Finnlands nur aus der Ferne erlebt, sagt Pistorius, doch nun sei er genau zur richtigen Zeit in Skandinavien.
Frage nach Zuverlässigkeit Deutschlands
Ein Thema begleitet Pistorius auf seiner Reise, auf das er gut hätte verzichten können: Wenige Tage vor der Abreise nach Skandinavien veröffentlichte ein russischer Staatssender ein abgehörtes Gespräch von hochrangigen Luftwaffenoffizieren. Darin ging es um mögliche Lieferungen des Marschflugkörpers "Taurus" an die Ukraine.
"Taurus"-Lieferungen sind nicht nur ein im Parlament kontrovers diskutiertes Thema, auch die Ampel-Partner sind uneins. Zuletzt versuchte der Kanzler mit einem Machtwort, der Debatte ein Ende zu setzen.
Ein Journalist der schwedischen Tageszeitung "Dagens Nyheter" fragt Pistorius, ob Deutschland überhaupt noch als verlässlicher Partner gelte. Danke für Ihre Frage, erwidert der Verteidigungsminister auf Englisch. Eigentlich sei es unhöflich, eine solche Frage an einen Gast zu richten, findet Pistorius. Und beantwortet sie dann dennoch.
"Zeiten der Friedensdividende vorbei"
Die Frage nach der Zuverlässigkeit muss Pistorius auf jeder Station seiner Reise beantworten: Stockholm, Alta, Helsinki. Wieder und wieder versichert er - unterstützt von seinen Amtskollegen: Natürlich sei Deutschland ein guter, ein zuverlässiger Partner.
Russland versuche ständig und auf vielen Wegen zu spionieren, so der finnische Verteidigungsminister Antti Häkkänen, größte Wachsamkeit sei verlangt. Das klingt fast wie ein Ratschlag an die deutschen Luftwaffenoffiziere.
Bei einem Kurzvortrag an der Nationalen Verteidigungsuniversität in Santahamina bei Helsinki spricht Pistorius den Elefanten im Raum lieber gleich direkt an. Und sagt dazu: Russlands Präsident Wladimir Putin wolle spalten. Dessen wahrer Feind sei die Demokratie. "Die Zeiten der Friedensdividende sind vorbei", sagt der SPD-Politiker.
Rückkehr zur Wehrpflicht
Pistorius will mit seiner Skandinavien-Reise vor allem ein Thema setzen, unterfüttert mit bildträchtigen Terminen vor Schneemobilen nördlich des Polarkreises. Ihm geht es um eine Debatte über die Rückkehr zur Wehrpflicht, die in Deutschland seit Jahren ausgesetzt ist. Vorbild Skandinavien.
Ein Besuch bei vier norwegischen Wehrpflichtigen, die - ohne dass Offiziere dabei wären - von einem Wachturm aus die knapp 200 Kilometer langen Grenze zu Russland schützen: Das, so sagt Pistorius, habe ihn nachhaltig beeindruckt. Mal ganz abgesehen davon, dass die 18-Jährigen wegen russischer Spähversuche auch noch auf Handys verzichten müssen. Eigenständiges Handeln, der Stolz darauf, für eine besondere Aufgabe ausgewählt zu sein. Männer wie Frauen im Dienst für ihr Land.
Gegen den Personalmangel bei der Bundeswehr
Dasselbe Thema setzt Pistorius mit seinem Besuch der Musterungsbehörde in Stockholm. Schweden schreibt alle Volljährigen an - Männer wie Frauen. In einem mehrstufigen Siebverfahren mit Fitnessprüfungen und einem Intelligenztest werden schließlich knapp zehn Prozent davon für den Dienst ausgewählt.
Er habe ein "Faible" für dieses Modell, sagt Pistorius, der einen eklatanten Personalmangel bei der Bundeswehr in den Griff bekommen muss. Ihm schwebt eine Wehr- und Dienstpflicht vor, die über das rein Militärische hinausgeht. Noch allerdings hat er kein eigenes Konzept auf den Tisch gelegt.
Eine allumfassende Verteidigung
Für Finnlands Konzept der "Total Defence" hat Pistorius noch keine griffige deutsche Übersetzung. Es geht um die Idee, dass alle Bereiche zur Landesverteidigung beitragen müssen. Und auch jeder Einzelne: mit Bevorratung zum Beispiel. Man könne nicht immer nur auf den Staat zeigen.
So geht es Pistorius auch in Helsinki um die Frage des Gemeinsinns. Bereit zu sein, "für sein Land zu kämpfen, ohne jeden Zug von Militarismus", darin sieht er das finnische Vorbild. "Doch davon ist Deutschland noch weit entfernt."
Der Weg dorthin wäre für Deutschland ein sehr langer. Die Einführung einer Wehrpflicht auch für Frauen - wie in Schweden und Norwegen - würde eine Grundgesetzänderung voraussetzen und bräuchte damit eine zwei Drittel Mehrheit im Bundestag. Gegen die Rückkehr zur Wehrpflicht gibt es aber erhebliche Widerstände bei den Ampelpartnern FDP und Grüne wie auch innerhalb der SPD.
"Die Komfortzone verlassen"
Auch die Frage nach der Wehrgerechtigkeit bei der Auswahl nur einiger weniger stünde erneut im Raum. Wie groß die Widerstände bei der Umsetzung der Zeitenwende seien, fragt ein Offiziersanwärter an der Militärakademie bei Helsinki. Wie viel Zeit habe ich für die Antwort, fragt Pistorius zurück.
Manch einer in Deutschland müsse jetzt seine Komfortzone verlassen - das ist seine Botschaft. Er will eine gesellschaftliche Debatte anstoßen. Die ihm aber heftigen Gegenwind bescheren könnte. Gerade bei der Altersgruppe, die letztlich Dienst leisten müsste. Das ist ihm wohl bewusst.
Leidiges Thema Materialbeschaffung
Im norwegischen Alta, beim skandinavischen Manöver "Nordic Response", unterhält Pistorius sich bei einer kleinen Waffenpräsentation im Schnee mit einem der Gebirgsjäger. Er spricht das leidige Thema Materialbeschaffung an, und diesmal geht es nicht nur um weiße Regenschirme.
Wenn etwas fehlen würde, würden Sie es mir sagen? Ja, so die militärische knappe Antwort des Gebirgsjägers. Pistorius lacht. "Ja, ja: Ein paar Dinge gibt es noch zu tun."