"Taurus"-Abhöraffäre Warum Deutschland keine Kriegspartei ist
Das abgehörte Gespräch der Bundeswehroffiziere wird von Russland und prorussischen Akteuren als Beweis für eine direkte Kriegsbeteiligung des Westens gewertet. Experten widersprechen - und sehen Propaganda am Werk.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sieht in den abgehörten Gesprächen von Bundeswehroffizieren den Beleg für eine "direkte Verwicklung" des Westens in den Krieg in der Ukraine. Der russische Staatssender RT DE schreibt gar von einem "Terroranschlag mit deutschen 'Taurus'-Marschflugkörpern auf die Krim-Brücke", den die Offiziere geplant hätten. Und der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedjew, warnt auf seinem Telegram-Kanal, dass "Deutschland sich auf einen Krieg mit Russland vorbereitet".
Deutlich weniger brisant wird der Inhalt des Gesprächs in Deutschland wahrgenommen. So sprach Verteidigungsminister Boris Pistorius beispielsweise davon, dass der überwiegende Teil der Inhalte des Gesprächs bereits vorher öffentlich bekannt gewesen sei.
Keine Kriegspartei im Sinne des Völkerrechts
Auch Rafael Loss, Policy Fellow am European Council On Foreign Affairs (ECFR), bestätigt dies. Grundsätzlich sei es so, dass die Bundesregierung "durch Waffenlieferungen das völkerrechtlich verbriefte Selbstverteidigungsrecht der Ukraine" unterstütze. "Kriegspartei im Sinne des Völkerrechts wird Deutschland dadurch nicht", sagt Loss.
Das sieht auch Christoph Schwarz, Research Fellow am Austrian Institute for European and Security Policy (AIES), so. "Grundsätzlich sei gesagt, dass eine Kriegsbeteiligung Deutschlands im Grunde nur durch zwei Szenarien zustande käme: Erstens, wenn deutsche Soldatinnen und Soldaten aktive und unmittelbare Kampfhandlungen ausführen würden oder zweitens, wenn der Bündnisfall (NATO oder EU) durch die Ausweitung der Kampfhandlungen auf einen EU- oder NATO-Mitgliedsstaat ausgelöst würde."
Durch bloße Waffenlieferungen oder Ausbildung, selbst auf ukrainischem Staatsgebiet, wäre dies nicht der Fall, so Schwarz. Heikel könne es im Kontext der "Taurus"-Raketen dann werden, wenn deutsche Soldatinnen und Soldaten direkt beim Einsatz dieser Waffen eingebunden wären.
"Unangemessen und unwahr"
In dem geleakten Gespräch werden Optionen besprochen, wie die Lieferung von "Taurus"-Marschflugkörpern bewerkstelligt werden könnte. "Wenn wir uns denn mal politisch entscheiden würden, die Ukraine zu supporten damit, wie könnte denn die ganze Nummer am Ende laufen?", fragt ein Gesprächsteilnehmer. Aber "einer Entscheidung der politischen Führung wird dadurch nicht vorgegriffen, darauf weisen die Gesprächsteilnehmer explizit hin", erklärt Loss vom ECFR.
Schwarz vom AIES weist zudem darauf hin, dass die Ukraine das Waffensystem eigenständig und ohne Hilfe deutscher Soldaten verwenden könne, weshalb die Aussage, dass die Lieferung von "Taurus" eine Kriegsbeteiligung bedingen würde, "als unangemessen und unwahr bezeichnet werden kann".
Im Gespräch heißt es: "Wir wissen ja auch, dass da viele Leute mit amerikanischem Akzent in Zivilklamotten rumlaufen." Und an anderer Stelle wird gesagt: "Die Engländer (...) haben auch ein paar Leute vor Ort." Aber daraus ergibt sich den Experten zufolge nicht zwangsläufig eine formelle Kriegsbeteiligung Großbritanniens und schon gar nicht der NATO. Es komme nämlich darauf an, "mit welchen Aufgaben diese Leute konkret betraut sind", sagt Loss. Schwarz ergänzt: "'Ein paar Leute vor Ort' ist jedenfalls nicht genug, um auf eine Kriegsbeteiligung zu schließen, sofern die genaueren Umstände dieser Aktivitäten nicht bekannt sind."
Großbritanniens Premier widerspricht
Die Ukraine und Großbritannien würden bestreiten, dass es sich bei den Aktivitäten um eine Kriegsbeteiligung im völkerrechtlichen Sinne handle. Und: "Selbst wenn sich einzelne NATO-Staaten dazu entscheiden sollten, der Ukraine auch militärisch zur Seite zu stehen, ergäbe sich daraus nicht automatisch eine Kriegsbeteiligung der gesamten Allianz", so Loss.
Bereits Ende Februar hatte Bundeskanzler Olaf Scholz angedeutet, dass Frankreich und Großbritannien bei der Zielsteuerung und der Begleitung der Zielsteuerung der Storm-Shadow-Raketen mitwirken könnten. Daraufhin entgegnete der britische Premieminister Rishi Sunak, dass der Einsatz und der Prozess der Zielauswahl Sache der ukrainischen Streitkräfte sei. Großbritannien habe nur wenig Personal im Land, "um für die Sicherheit unserer diplomatischen Präsenz zu sorgen und die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen, unter anderem durch medizinische Ausbildung".
Historisch gesehen habe es diverse Formen der militärischen Zusammenarbeit in Kriegen gegeben, sagt Loss. "Im Kontext von Ertüchtigungsmaßnahmen wird häufig auch die technische Ausbildung vom liefernden Partner übernommen", erläutert Loss. So nahmen "während des Koreakriegs sowjetische Piloten auf nordkoreanischer Seite am Luftkrieg gegen die USA und ihre südkoreanischen Verbündeten teil, ohne von den Vereinigten Staaten als Kriegspartei deklariert worden zu sein".
Drohung gegen Deutschland?
In russischen Staatsmedien und prorussischen Kanälen wird der Inhalt des Gesprächs hingegen als großer Skandal verkauft. "Das abgehörte Gespräch wird als endgültiger Beweis dafür angesehen, dass sich Russland im Krieg mit der NATO befinde", sagt Julia Smirnova, Senior Researcherin am Institute for Strategic Dialogue Germany (ISD). Der Inhalt werde dabei so verzerrt wiedergegeben, als ginge es um einen geplanten Angriff der Bundeswehr auf die Krim.
Auch prorussische Akteure in Deutschland äußerten sich ähnlich. Der thüringische AfD-Chef Björn Höcke schrieb von einem klaren Verstoß gegen Artikel 26 des Grundgesetzes, der die Vorbereitung eines Angriffskriegs verbietet. Weiter heißt es von Höcke: "Ich verurteile die Pläne dieser Sandkastenfeldherrn auf das Schärfste!" Die rechtsextreme Partei "Freie Sachsen" erstattete eigenen Angaben zufolge Strafanzeige gegen die beteiligten Soldaten.
Nach Einschätzung von Smirnova ist das Ziel des Kreml vor allem, Deutschland damit zu drohen, keine "Taurus"-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern. "Diese Operation hatte offenbar den Zweck, die Lieferung von 'Taurus' zu verhindern", sagt Smirnova. Zudem gehe es auch darum, die deutsche Öffentlichkeit einzuschüchtern und diese erneut davor zu warnen, der Ukraine weiter zu helfen.
"Putin wähnt sich längst im Krieg mit dem Westen"
Zudem werde auch hervorgehoben, dass es Russland gelungen sei, das Gespräch abzuhören. "Einige (Telegram-) Kanäle machen sich über die Unfähigkeit der Bundeswehr lustig", sagt Smirnova. Zudem werde das Narrativ bedient, dass Deutschland dadurch auch kein zuverlässiger Partner für andere NATO-Länder sei.
Auch aus Sicht von Loss dient die Veröffentlichung des Gesprächs vor allem propagandistischen Zwecken. "Es sollte uns nicht überraschen, dass Russland vertrauliche Gespräche deutscher Entscheidungsträger abhört und diese selektiv zu veröffentlichen bereit ist." Dadurch solle Deutschlands Glaubwürdigkeit in der NATO unterminiert und der inneren Zusammenhalt gestört werden - mit dem Ziel, die westliche Unterstützung für die Ukraine zu schmälern. Das Ganze zeige daher vor allem eines: "Es verdeutlicht nur, dass sich Putin längst im Krieg mit dem Westen wähnt."