Im Transplantationszentrum am Universitätsklinikum Leipzig wird eine Niere beim Empfänger transplantiert.

Regelung zur Organspende Neuer Anlauf für die Widerspruchslösung

Stand: 01.06.2024 07:05 Uhr

Tausende Menschen warten auf ein Spenderorgan. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios könnten Abgeordnete bald einen neuen Antrag für die Widerspruchslösung vorlegen. Welche Folgen hätte das?

Von Nadine Bader, Jan Zimmermann, ARD Berlin und Ulrike Nikola, BR

Wenn die zweijährige Lena mit ihrem Bruder durchs Haus saust, ist das nicht wie bei anderen Kindern. Ihr Vater Ludwig Handl ist ihr immer auf den Fersen. Er schiebt Lenas Kunstherz: Eine 13-Kilo-Maschine, die sie am Leben hält. Über zwei Schläuche ist die Zweijährige aus dem bayerischen Landkreis Regensburg damit verbunden. Das Gerät ist eine künstliche Pumpe, die Lenas Herz unterstützt. Denn seit einer Herzmuskelentzündung vor mehr als einem Jahr arbeitet ihre linke Herzkammer nicht mehr. Wie lange Lena auf ein lebensrettendes Spenderherz warten muss, ist ungewiss.

Wie Lena geht es mehr als 8.300 Patientinnen und Patienten in Deutschland. Sie stehen auf einer Warteliste für ein Spenderorgan. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will ihnen helfen. Er ist für die Einführung der Widerspruchslösung.

Das bedeutet: Wenn eine verstorbene Person zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat, könnten Organe - anders als derzeit - zur Transplantation entnommen werden. "Das würde die Leben von Zehntausenden von Menschen besser machen", sagt Lauterbach dem ARD-Hauptstadtstudio. "Das sind ja immer ganze Familien, die auf das Organ warten." Die Initiative dazu müsse aber aus dem Parlament kommen, da es sich um eine Gewissensentscheidung eines jeden einzelnen Abgeordneten handele.

Widerspruchslösung: Kommt schon bald ein neuer Antrag?

So eine fraktionsübergreifende Initiative hatte Lauterbachs Vorgänger, Jens Spahn (CDU), als Gesundheitsminister schon 2020 gestartet. Für einen Gruppenantrag zur Einführung der Widerspruchslösung stimmten damals 292 Abgeordnete, 379 waren jedoch dagegen.

Vier Jahre später zeichnet sich ein neuer Anlauf ab. Bundestagsabgeordnete verschiedener Parteien arbeiten wieder an einem gemeinsamen Antrag. Die Medizinerin und SPD-Abgeordnete Sabine Dittmar berichtet, dass sich die Stimmung im Parlament gedreht habe. "Zum einen setzen sich die Fraktionen anders zusammen. Es sind viele junge Kolleginnen und Kollegen nachgekommen", erklärt sie.

Zum anderen gebe es in manchen Parteien heute mehr Befürworter für die Widerspruchslösung - zum Beispiel bei den Grünen. So werden nun "sehr intensive Gespräche geführt, die auch sehr konstruktiv sind", so Dittmar, die auch parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium ist. Das stimme sie sehr zuversichtlich.

Ähnliches berichtet der CDU-Gesundheitspolitiker Sepp Müller. In diesen Tagen würden sinnbildlich Klinken geputzt und an Türen geklingelt. Müller: "Unser Ziel ist, auf deutlich über 300 Unterstützer zu kommen", um Gruppenantrag und Gesetzentwurf für die Widerspruchslösung auf den Weg zu bringen. Der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende rechnet noch in dieser Legislaturperiode mit einer Entscheidung: "Es geht um Leben und Tod. Ich bin ein Verfechter der Widerspruchslösung. Ich möchte, dass sich die Menschen mit dem Thema beschäftigen."

Aus dem Bundestag ist zu hören, dass der Antrag schon in wenigen Wochen auf dem Tisch liegen könnte. Auch Politiker der Grünen, FDP und Linkspartei sollen das Vorhaben unterstützen. 

Lauterbach würde neuen Antrag unterstützen

Gesundheitsminister Lauterbach zeigt sich ebenfalls zuversichtlich, dass ein neuer Anlauf in Kürze gelingen könnte. "Es wird in der Tat im Deutschen Bundestag wieder an einem Verfahren, einem Antrag gearbeitet für die Widerspruchslösung." Der SPD-Minister betont: "Wenn dieser Antrag zustande kommt, davon gehe ich aus, werde ich diesen Antrag als Abgeordneter natürlich unterstützen."

Ganz anders sieht das Kirsten Kappert-Gonther. Die Grünen-Politikerin ist derzeit amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses. Sie hält die Entscheidungslösung, die derzeit in Deutschland gilt, weiterhin für den richtigen Weg.

Entscheidungslösung, das heißt: Organe dürfen hierzulande nur dann nach dem Tod entnommen werden, wenn die verstorbene Person dem zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt hat. Wenn keine Entscheidung vorliegt, werden die Angehörigen gefragt. Kappert-Gonther fürchtet, dass die Widerspruchslösung das Vertrauen der Menschen in die Organspende senken könnte. Sie sagt, dass "Schweigen bei so einer zutiefst persönlichen Angelegenheit natürlich nicht Zustimmung bedeuten kann". Man dürfe nicht in Kauf nehmen, "dass womöglich dann Personen Organe nach ihrem Tod entnommen werden, die nicht damit einverstanden gewesen wären".

 

Weitere Faktoren wichtig, um Zahl der Organspender zu erhöhen

Aus Sicht Kappert-Gonthers sollten stattdessen die Rahmenbedingungen verbessert werden. Etwa durch die Einführung des Organspende-Registers, in das man sich seit März 2024 eintragen kann. Seitdem haben dort mehr als 120.000 Menschen ihre Bereitschaft zur Organspende registriert. Oder durch bessere Bedingungen in Kliniken, die Transplantationen vornehmen.

Zum Beispiel, indem Ärztinnen und Ärzte als Transplantationsbeauftragte auf mögliche Organspender aufmerksam machen und Gespräche mit Familienangehörigen führen. 2020 wurde beschlossen, dass diese Ärzte dafür freigestellt werden müssen, sich also ausschließlich darum kümmern können.

Viele Experten sagen, dass die Widerspruchslösung allein nicht entscheidend ist, um die Zahl der potenziellen Organspender zu erhöhen.

 

Das zeigt ein Blick nach Spanien, das gerne als Musterland genannt wird: Es zählt zu den Ländern mit den meisten Organspenderinnen und -spendern in Europa. Pro eine Million Einwohner gab es dort zuletzt 46 Spender. Zum Vergleich: In Deutschland waren es nur 11 Spender pro eine Million Einwohner. In Spanien gilt die Widerspruchslösung. Aber auch die Rahmenbedingungen sind dort besser geregelt und werden von einer Nationalen Organisation für Transplantation (ONT) koordiniert. In jedem größeren spanischen Krankenhaus gibt es Experten-Teams, die sich um Organspenden kümmern.

Fest steht aber auch: Trotz neuer Maßnahmen, etwa der Stärkung von Transplantationsbeauftragten, bewegt sich in Deutschland kaum etwas. Die Zahl der Menschen, die nach ihrem Tod ein Organ spenden, ist im internationalen Vergleich auf vergleichsweise niedrigem Niveau: 2019 waren es laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) 932 Organspender, 2023 lag die Zahl bei 965. Eine Trendwende ist nicht in Sicht.

Lenas Familie im bayerischen Kreis Regensburg hofft, dass bald der entscheidende Anruf kommt: ein Spenderherz. "Es ist schon belastend und wird auch immer schlimmer, weil es auch gewisse Risiken mit sich bringt", sagen ihre Eltern. Täglich muss Lena Blutverdünner einnehmen. Denn wenn sich Klumpen im Blut bilden, ist die Gefahr für einen Schlaganfall groß. Medikamente schlucken, Blut abnehmen, Gerinnung messen - tapfer macht die Zweijährige alles mit. Doch die Angst und das zermürbende Warten bleiben.

Jan Zimmermann, ARD Berlin, tagesschau, 01.06.2024 07:07 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 01. Juni 2024 um 08:00 Uhr.