Organspende Wie viel bringt die Widerspruchslösung?
Um die Organspenderate zu erhöhen, hält Gesundheitsminister Lauterbach die Widerspruchslösung für "alternativlos". Statistisch gibt es keine Belege dafür, dass sie wirklich für mehr Spenden sorgt.
Mehr als 8.000 Menschen warten nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) in Deutschland derzeit auf ein Spenderorgan. Daran werde auch das Organspende-Register nicht viel ändern, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bei der Vorstellung des neuen Portals. "Ich glaube, dass wir ohne die Widerspruchslösung dieses Problem nicht lösen können", so Lauterbach. Die Widerspruchslösung sei "alternativlos".
Auch der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann fordert die Einführung der Widerspruchslösung. Er kündigte an, einen Gesetzesantrag in den Bundesrat einzubringen, um das parlamentarische Verfahren in Gang zu setzen. Die Bundesländer hatten bereits im Dezember vergangenen Jahres die Bundesregierung aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Widerspruchslösung in das Transplantationsgesetz aufgenommen wird.
Was ist die Widerspruchslösung?
Die Widerspruchslösung beinhaltet, dass Menschen generell als Organspender gelten, sofern sie dem nicht ausdrücklich widersprochen haben. Momentan ist es in Deutschland quasi andersherum: Nur bei einer ausdrücklichen Zustimmung darf einem Menschen ein Organ entnommen werden - auch nach seinem Tod. Kritiker bemängeln, dass durch diese sogenannte Entscheidungslösung viele potenzielle Spender verloren gingen und verweisen auf Spanien, wo die Widerspruchslösung gilt. Mit 48,9 Spendern pro einer Million Einwohner war die Spendenquote dort im vergangenen Jahr viermal so hoch wie in Deutschland (11,4).
Kein statistisch signifikanter Unterschied
Doch dass allein der Wechsel von der Entscheidungslösung hin zur Widerspruchslösung einen starken Anstieg der tatsächlichen Organspenden herbeiführt, ist aus statistischer Sicht nicht haltbar, sagt Katharina Schüller, Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft. "Die Widerspruchslösung erhöht zwar die Anzahl der potenziellen Organspender, nicht aber die Anzahl der tatsächlichen Organspenden."
So hat eine Studie aus dem Jahr 2019 die Organspende- und Transplantationsraten zwischen 17 OECD-Ländern mit Widerspruchslösung mit 18 OECD-Ländern mit Zustimmungsregel verglichen. Demnach gab es keinen statistisch bedeutsamen Unterschied im Anteil der tatsächlichen Organspender. "Während es bei den Ländern mit Widerspruchslösung zwar insgesamt mehr Spenden von Verstorbenen gibt, ist der Anteil der Spenden von lebenden Menschen geringer", sagt Schüller.
Bei Lebendorganspenden handelt es sich in den meisten Fällen um Nieren, 27 Prozent der gespendeten oder transplantierten Nieren in Deutschland im Jahr 2022 kamen von lebenden Menschen. Bei Lebern lag der Anteil bei etwa fünf Prozent. "Leber und Nieren zusammen machen mehr als 80 Prozent aller transplantierten Organe aus, die Nieren allein 60 Prozent", sagt Schüller. "Das heißt, wenn die Lebendorganspenden deutlich heruntergehen, müssen sehr viel mehr passende Spender gefunden werden, die nach ihrem Tod Nieren spenden lassen, damit sich das wieder ausgleicht."
Andere Faktoren entscheidend
Auch eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung deutet in eine ähnliche Richtung. Die Forschenden analysierten fünf Länder, die von einer Zustimmungsregel auf eine Widerspruchslösung umgestellt hatten (Argentinien, Chile, Schweden, Uruguay und Wales). Der Wechsel führte demnach zu einer nicht wesentlichen Erhöhung der tatsächlichen Organspenderaten.
Andere Studien attestieren der Widerspruchslösung zwar erste positive Anzeichen mit Blick auf die Zahl der daraus resultierenden Organspender, zum Beispiel für Großbritannien und die Niederlande. Allerdings wird auch dort darauf hingewiesen, dass die Unterschiede in den Organspenderaten nicht allein durch die Widerspruchslösung erklärt werden können. So heißt es in einer Studie des schottischen Gesundheitsministeriums, dass es ermutigende Hinweise darauf gibt, dass die Widerspruchslösung als Teil eines Maßnahmenpakets zu einem Anstieg von Organspenden und Transplantation führen könne.
Und auch in Spanien ist einer Studie zufolge die Widerspruchslösung nicht der entscheidende Faktor für die hohe Spenderate. "Ein proaktives Spendererkennungsprogramm, das von gut ausgebildeten Transplantationskoordinatoren durchgeführt wurde, die Einführung systematischer Todesfallprüfungen in den Krankenhäusern in Verbindung mit einer positiven sozialen Atmosphäre, einem angemessenen Management der Beziehungen zu den Massenmedien und einer angemessenen wirtschaftlichen Vergütung für die Krankenhäuser waren für diesen Erfolg verantwortlich", lautet das Fazit der Forschenden.
Hinzu kommt, dass in Spanien die Widerspruchsregel nicht streng ausgelegt wird. Denn auch ohne vorliegenden Widerspruch werden in der Regel die Angehörigen gefragt, ob sie eine Entnahme der Organe zustimmen. Während sich in Deutschland jedoch nach Angaben der DSO die Angehörigen bei unbekanntem Willen des Verstorbenen in 74 Prozent der Fälle dagegen entscheiden, entscheiden sich in Spanien die Angehörigen insgesamt in 85 Prozent der Fälle dafür.
"Organspendezahlen sind immer multikausal"
"Länder, die die Widerspruchslösung haben, weisen zusätzlich dazu von Deutschland abweichende strukturelle und/oder gesellschaftliche Strukturen auf und haben mitunter andere medizinische Voraussetzungen für eine Organspende", teilt eine Sprecherin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mit. "Organspendezahlen sind immer multikausal. Wie sich die Einführung einer Widerspruchslösung auf die Organspendezahlen in Deutschland auswirken würde, kann deshalb letztlich nicht vorhergesagt werden."
Dem stimmt auch Axel Rahmel, medizinischer Vorstand bei der DSO, zu. "Zu glauben, dass man die Widerspruchslösung einführt und die Spenderzahlen dann explodieren, ist sicherlich zu kurz gegriffen", sagt er. "Aber man kann schon hoffen, dass die Einführung einer Widerspruchslösung einen Kulturwandel mit anstößt." Denn hohe Spenderaten seien vor allem eine Einstellungsfrage - in Spanien gebe es mit Blick auf Organspenden eine ganz andere Mentalität.
In Deutschland haben einer Umfrage der BZgA zufolge 84 Prozent eine positive Einstellung gegenüber der Organ- und Gewebespende. Einen Organspendeausweis besitzen demnach 40 Prozent, wovon mehr als 80 Prozent einer Organspende zustimmen. In der Praxis werde jedoch nur bei etwa 15 Prozent der möglichen Organspender der Organspendeausweis überhaupt gefunden, sagt Rahmel.
Auch wenn Organspenden generell positiv gesehen würden, würden viele Menschen ein Festhalten ihrer Entscheidung im Organspendeausweis oder im neuen Organspende-Register immer wieder aufschieben. Dabei ist die Organspenderate bei den Menschen am höchsten, deren Wille schriftlich festgelegt wurde.
"Widerspruchslösung als Wegbereiter"
Die politischen Rahmenbedingungen wurden seiner Ansicht nach in den vergangenen Jahren in Deutschland hingegen stark verbessert, sodass die Unterschiede in dieser Hinsicht zu Spanien nicht mehr gravierend seien. Zwar gebe es zwischen einzelnen Kliniken in Deutschland noch erhebliche Unterschiede bei der Umsetzung, doch insgesamt seien ausgemachte Erfolgsfaktoren aus Spanien wie Transplantationsbeauftragte an Krankenhäusern auch in Deutschland eingeführt worden. Zudem erhalten die Kliniken inzwischen deutlich mehr Geld, um den Aufwand einer Organspende zu decken.
"Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht den einen Schalter gibt, um die Spenderate zu erhöhen", sagt Rahmel. Ein Baustein ist aus seiner Sicht, dass in Deutschland erst bei einem unumkehrbaren Ausfall der gesamten Hirnfunktionen (Hirntod) Organe entnommen werden dürfen. In vielen anderen europäischen Ländern sind auch Organspenden nach Herzkreislauftod erlaubt. Da deutlich mehr Patienten auf Intensivstationen an Herzkreislauf-Versagen sterben, könnte dadurch die Spenderate erhöht werden. In einigen Ländern machen Spenden nach Herzkreislauftod bis zu 50 Prozent aller Organspenden aus.
Ein weiterer Faktor könnte Rahmel zufolge die Maschinenperfusion sein, durch die Schäden am Spenderorgan verringert werden können und dadurch zu besseren Ergebnissen nach Transplantationen führen.
Insgesamt hält Rahmel einen Kulturwandel beim Thema Organspende jedoch für den wichtigsten Baustein - und befürwortet daher auch die Widerspruchslösung. "Meine feste Überzeugung ist, dass die Widerspruchslösung, wenn sie von der Politik und auch von der Gesellschaft mitgetragen wird, als Wegbereiter und Unterstützer des Kulturwandels helfen kann."