FAQ

Rechtsstreit um "Schmähgedicht" Erdogan vs. Böhmermann - vertagt auf 2017

Stand: 02.11.2016 20:59 Uhr

Das Hamburger Landgericht hat sich erneut mit dem "Schmähgedicht" Jan Böhmermanns befasst - das Urteil soll erst im Februar 2017 fallen. Doch weshalb war eine erneute Verhandlung notwendig?

Von Kolja Schwartz, ARD-Rechtsredaktion und Tobias Sindram, SWR

Worum geht es im Fall "Böhmermann"?

Am 31. März 2016 wurde sie ausgestrahlt - die Folge der Satire-Sendung "Neo Magazin Royale", die für viel Wirbel sorgte. Jan Böhmermann trug darin ein Gedicht über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan vor. "Schmähkritik" nannte er sein Werk und kleidete dies ein in eine Erklärung zur Abgrenzung zwischen Satire und nicht erlaubter Schmähkritik. Unter anderem sagte Böhmermann zu dem Gedicht: "[…] Das kann bestraft werden. Und dann können auch Sachen gelöscht werden. […] Was jetzt kommt, das darf man nicht machen. Das ist in Deutschland verboten."

Von dem dann folgenden Gedicht, in dem Erdogan unter anderem Sex mit Ziegen und eine Vorliebe für Kinderpornographie angedichtet wurde, fühlte sich Erdogan beleidigt. Der türkische Präsident möchte, dass Böhmermann für die Äußerungen in dem Gedicht bestraft wird. Gleichzeitig will er verhindern, dass das Gedicht weiter verbreitet wird.

Welche rechtlichen Baustellen sind zu unterscheiden?

Der türkische Präsident kämpft an zwei juristischen Fronten gegen das "Schmähgedicht". Das eine ist die zivilrechtliche Ebene. Im Zivilrecht streiten zwei Privatpersonen untereinander vor Gericht. Dabei geht es um "Unterlassung", das Gedicht weiter zu verbreiten. Zivilrechtlich hat sich das Landgericht Hamburg mit dem Gedicht beschäftigt und Böhmermann die weitere Verbreitung des Gedichts Mitte Mai zum Teil untersagt. Allerdings war die Entscheidung im Mai nur eine vorläufige Entscheidung im Eilverfahren. Davon zu unterscheiden ist das Hauptsacheverfahren, in dem dasselbe Gericht ohne Zeitdruck entscheidet. Die mündliche Verhandlung im Hauptverfahren war am 2. November.

Die zweite Baustelle ist die strafrechtliche Ebene, also die Frage, ob die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt oder nicht. Die türkische Regierung hatte ein Strafverlangen wegen der Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes (§103 StGB) gestellt. Parallel dazu hatte Erdogan als Privatperson Strafantrag wegen Beleidigung (§185 StGB) gestellt. Die Frage lautet, ob das, was Böhmermann gemacht hat, eine Straftat darstellt. Die Staatsanwaltschaft Mainz hat das Anfang Oktober verneint und das Ermittlungsverfahren deshalb eingestellt. Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz hat die Beschwerde Erdogans gegen diese Einstellung Mitte Oktober abgewiesen.

Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz sind seit Ende Oktober beide theoretisch in Betracht kommenden Beleidigungsstraftaten verjährt. Jan Böhmermann droht danach endgültig keine Anklage mehr. Das sonst mögliche "Klageerzwingungsverfahren" erübrigt sich. Mit diesem hätte der türkische Präsident die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen einzustellen, noch mal durch das Oberlandesgericht Koblenz überprüfen lassen können.  

Was hat das Landgericht Hamburg bisher entschieden?

Die Pressekammer des Landgerichts Hamburg hat auf Antrag des türkischen Präsidenten am 17. Mai 2016 eine einstweilige Verfügung gegen Jan Böhmermann erlassen. Das Gericht untersagte Böhmermann damit vorläufig, bestimmte Passagen des Gedichts selbst zu wiederholen oder wiederholen zu lassen. Aufgrund des "schmähenden und ehrverletzenden Inhalts" müsse Erdogan diese Textzeilen nicht hinnehmen. Die Richter sagten zwar, es handele sich bei Böhmermanns Gedicht um Kunst und um eine kritische Auseinandersetzung mit Erdogans Verhältnis zur Meinungsfreiheit. Außerdem müsse sich Erdogan als Politiker stärkere Kritik gefallen lassen als andere. Am Ende fiel die Abwägung der Hamburger Richter aber nicht für Jan Böhmermanns Kunst- und Meinungsfreiheit aus, sondern für Erdogan und sein allgemeines Persönlichkeitsrecht.

Die Begründung: Die für unzulässig erklärten Teile des Gedichts griffen aus Sicht der Richter gerade gegenüber Türken häufig bestehende Vorurteile auf, die gewöhnlich als rassistisch betrachtet werden würden. Dabei wogen zwei Dinge aus Sicht der Richter besonders schwer: Zum einen die Bezugnahme auf einen "Schweinefurz" im Gedicht, denn das Schwein gelte im Islam als unreines Tier, was Böhmermann auch bewusst gewesen sein müsse. Zum anderen störten sich die Richter daran, dass nahezu sämtliche Zeilen des Gedichts sexuelle Bezüge aufwiesen. Auf der Webseite der Hamburger Justiz kann man nachlesen, welche Teile des Gedichts die Richter genau für unzulässig erachteten (rote Schrift), und welche nicht (schwarze Schrift).

Warum befasst sich das Landgericht Hamburg erneut mit dem Gedicht?

Im Mai traf das Gericht "nur" eine Eilentscheidung. Es erließ eine einstweilige Verfügung gegen weite Teile des Gedichts. Auf die Verfügung kann sich Erdogan als Kläger aber nicht ewig berufen, denn Böhmermann hat ihn durch seinen Anwalt aufgefordert, auch das sogenannte Hauptsacheverfahren zu betreiben. Das wird jetzt durchgeführt - ohne Zeitdruck wie im Mai. Erstmal hat die Eilentscheidung des Hamburger Landgerichts von Mai aber weiter Bestand, am Ende wird sie dann durch das neue Urteil des Landgerichts der Hansestadt ersetzt werden. Je nachdem, wie das Urteil ausfällt, können dann Präsident Erdogan oder Böhmermann Berufung zum Oberlandesgericht Hamburg einlegen. Gegebenenfalls könnten sich auch beide gegen das Urteil des Landgerichts wehren, wenn es nämlich bei einem teilweisen Verbot bleibt und keiner der beiden voll gewinnt. Am Ende könnte der Streit bis nach Karlsruhe führen: erst zum Bundesgerichtshof und anschließend sogar bis vor das Bundesverfassungsgericht.

Warum hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt?

Die Staatsanwaltschaft Mainz entschied Anfang Oktober, das Ermittlungsverfahren gegen Böhmermann wegen Beleidigung eines Staatsoberhaupts einzustellen. Mitte Oktober bestätigte die Generalsstaatsanwaltschaft Koblenz diese Entscheidung und wies die Beschwerde Erdogans gegen die Einstellung ab.

Die Staatsanwaltschaft sagt, dass Böhmermann keine Beleidigung und damit keine Straftat nachzuweisen sei. Zunächst hat sich die Behörde mit der Frage auseinandergesetzt, ob das Gedicht überhaupt objektiv als "Beleidigung" anzusehen ist. Unter anderem, weil der Beitrag als "Beispiel für eine Überschreitung der Meinungsfreiheit" dienen sollte, habe man daran Zweifel. Die Staatsanwaltschaft setzt sich auch ausführlich mit der Meinungsfreiheit (Artikel 5 Absatz 1 GG) auseinander. Diese sei hier zu berücksichtigen, weil es noch um die Auseinandersetzung mit der Sache gehe und trotz "polemischer und überspitzter Kritik" die Diffamierung der Person nicht im Vordergrund stehe. Überdies sei die Kunstfreiheit (Artikel 5 Absatz 3 GG) zu berücksichtigen. Zu einer Satire gehöre es gerade dazu, mit Übertreibungen, Verzerrungen und Verfremdungen zu arbeiten.

Eine entscheidende Aussage der Staatsanwaltschaft lautet: Man dürfe das Gedicht nicht für sich gesehen betrachten, sondern muss es im Kontext sehen: "Entstehungsgeschichte, aktuelle zeitgeschichtliche Einbindung und die konkrete über das bloße Vortragen des sogenannten 'Schmähgedichts' hinausgehende Gestaltung des Beitrags" ließen Zweifel daran, dass eine Beleidigung hier objektiv vorliege.

Letztlich lässt die Staatsanwaltschaft diese Fragen aber offen, weil aus ihrer Sicht Böhmermann zumindest keinen Vorsatz hatte, den türkischen Präsidenten zu beleidigen. Der Satiriker habe erklärt, ihm sei "an einer derart übertriebenen und von der konkreten Person abgelösten Darstellung gelegen gewesen", dass die fehlende Ernstlichkeit jedem erkennbar sein sollte. Sowohl der Inhalt des Beitrags, aber auch seine Entstehung und die Darstellung in der Sendung würden genau das stützen, so die Staatsanwaltschaft Mainz. Schon die "geradezu absurde Anhäufung vollkommen übertriebener, abwegig anmutender Zuschreibungen negativ bewerteter Eigenschaften und Verhaltensweisen, denen jeder Bezug zu tatsächlichen Gegebenheiten - offensichtlich beabsichtigt - fehle", würden dafür sprechen.

Widersprechen sich die Entscheidungen von Staatsanwaltschaft und Landgericht Hamburg nicht?

Es besteht schon ein gewisser Widerspruch zwischen der Entscheidung der Staatsanwaltschaft und der des Landgerichts Hamburg. Dies mag verwundern. Man muss aber wissen, dass die Staatsanwaltschaft nicht an die Entscheidung des Hamburger Landgerichts gebunden ist und das Gericht nicht an die der Staatsanwaltschaft - auch wenn der rechtliche Maßstab durchaus ähnlich ist. Dies zeigt: Die Frage, ob Jan Böhmermann die Grenzen zulässiger Kritik überschritten hat oder nicht, ist auch unter Juristen umstritten.

Außerdem gibt es einen wichtigen juristischen Unterschied zwischen dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und dem zivilrechtlichen Streit. Für die Frage, ob Böhmermann sich strafbar gemacht hat, kommt es auch darauf an, ob er damals, Ende März, vorsätzlich gehandelt hat. Genau damit, also an dem aus ihrer Sicht fehlenden Vorsatz, haben die Staatsanwaltschaft Mainz und die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz die Strafbarkeit Böhmermanns letztlich verneint. Für die zivilrechtliche Frage, ob Erdogan Böhmermann die weitere Verbreitung des Gedichts verbieten lassen kann, kommt es auf Vorsatz aber nicht an. Die zivilrechtlichen Hürden sind für Erdogan also etwas geringer als die strafrechtlichen.

Kann sich Erdogan noch gegen die strafrechtliche Einstellung wehren?

Nein. Nachdem die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz die Einstellungen der Ermittlungen Mitte Oktober bestätigt hat, hätte der türkische Präsident beim Oberlandesgericht Koblenz noch gegen die Einstellung vorgehen können. Das erlaubt das sogenannte "Klageerzwingungsverfahren", das letztlich ein "Anklageerzwingungsverfahren" ist. Allerdings sind mögliche Beleidigungsstraftaten nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz seit Ende Oktober verjährt. Damit ist das Klageerzwingungsverfahren inzwischen hinfällig geworden und Böhmermann droht endgültig keine Anklage mehr.

Hintergrund der Verjährung ist § 37 des Landesmediengesetzes von Rheinland-Pfalz. Danach verjähren Straftaten wie Beleidigungen, wenn sie über die Medien begangen werden, schon nach sechs Monaten. Die Sechs-Monats-Frist sei Ende Oktober abgelaufen, so die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz, genau sechs Monate, nachdem Böhmermann über die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen ihn informiert worden sei. Man habe das strafrechtliche Ermittlungsverfahren mit größter Beschleunigung betrieben, damit noch die Möglichkeit für den türkischen Präsidenten gegeben war, das Oberlandesgericht Koblenz anzurufen. Außerdem habe man Erdogans Anwalt rechtzeitig über die drohende Verjährung informiert. Dieser hatte den Ermittlern im Nachhinein eine Verschleppung des Strafverfahrens vorgeworfen.

Anmerkung: In einer früheren Version des FAQ stand, der türkische Präsident Erdogan könne noch bis Mitte November gegen die Einstellung des Strafverfahrens vor dem Oberlandesgericht Koblenz vorgehen. Durch die Verjährung der potenziellen Beleidigungen ist das hinfällig geworden.

Hat sich die Staatsanwaltschaft mit der Verfahrenseinstellung nicht gegen die Kanzlerin gestellt, die eine Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt hatte?

Nein. Richtig ist, dass die Bundesregierung im April die "Ermächtigung zur Strafverfolgung" erteilt hat. Dies ist eine der Voraussetzungen des § 103 StGB, der Beleidigung von ausländischen Staatsoberhäuptern. Damit hat die Bundeskanzlerin der Staatsanwaltschaft sinngemäß gesagt: Ihr könnt prüfen und eine unabhängige Entscheidung treffen, ob sich Böhmermann aus Eurer Sicht nach § 103 StGB strafbar gemacht hat und Ihr Anklage erhebt oder nicht. Eine inhaltliche Entscheidung zur Anklage war damit nicht getroffen, dafür wäre die Bundesregierung auch nicht zuständig gewesen.

Hatte Erdogan nicht angekündigt, alle Anzeigen zurückzunehmen?

Ende Juli 2016 hatte der türkische Staatspräsident angekündigt, alle Anzeigen wegen Beleidigung zurückzuziehen. Unklar war zunächst, ob damit auch die Anzeigen in Deutschland gemeint waren. Erdogans Anwalt teilte jedoch schon kurze Zeit später mit, dass die Verfahren in Deutschland weiterlaufen werden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 02. November 2016 um 06:30 Uhr.