Trumps radikale Anhänger In einer "alternativen Realität"
Die Mär vom Wahlbetrug oder einer Verschwörung geheimer Mächte: Solche Legenden sind Treibstoff für Trumps radikale Anhänger. Den Sturm auf das Kapitol wollen sie nun linken Aktivisten anhängen.
Noch während seine Anhänger das Kapitol in Washington belagerten und attackierten, zündelte der scheidende US-Präsident Donald Trump weiter: Er rief zwar dazu auf, nach Hause zu gehen, doch gleichzeitig wiederholte er verschiedene Lügen und Verschwörungslegenden. Angeblich sei sein vermeintlicher Wahlsieg gestohlen worden. Eine glatte Falschbehauptung: Weder liegen Beweise für einen Betrug vor, noch haben erneute Auszählungen eine Manipulation bewiesen. Auch diverse Klagen von Trumps Team wurden längst abgewiesen.
Schon seit Jahren baute Trump den großen Schwindel vom Wahlbetrug auf, um eine Wahlniederlage zum Resultat einer Verschwörung erklären zu können. Diese Doppelstrategie, sich einerseits als starker Mann und gleichzeitig als Opfer geheimer Mächte zu inszenieren, ist auch bei seinen radikalen Anhängern weit verbreitet. So kokettieren radikale Trump-Fans immer wieder offen mit Gewalt, träumen von einem Umsturz und bedrohen politische Gegner - doch nach dem Sturm auf das Kapitol wollen sie sich der Verantwortung entziehen und behaupten, der Angriff sei durch Antifa-Aktivisten angezettelt worden.
Falsche Fotos, unbelegte Behauptungen
Als vermeintlicher Beweis dienen unter anderem Fotos von Personen, die angeblich Antifa-Aktivisten seien und vor dem Kapitol gewesen sein sollen. Dafür gibt es aber keine Belege. Entweder handelt es sich um vollkommen unterschiedliche Personen oder um Fotos bzw. Videos von anderen Ereignissen.
Republikaner und Publizisten zitieren nun einen Bericht der "Washington Times", die als ultrakonservativ gilt und in der unter anderem der Klimawandel geleugnet wird. Reporter des Blatts behaupten, zwei Männer vor dem Kapitol als linke Aktivisten identifiziert zu haben. Beweise publizierte die Zeitung nicht. Republikanische Politiker und ultrakonservative Publizisten griffen den unbestätigten Bericht aber umgehend auf. Innerhalb weniger Stunden löste der Bericht allein auf Facebook mehr als 200.000 Interaktionen aus, wie eine Datenanalyse zeigt.
Vor dem Kapitol waren stattdessen Personen mit neonazistischen Parolen ("Camp Auschwitz") und Trump-Fahnen zu sehen. Nichts deutet darauf hin, dass es sich nicht um radikale Trump-Anhänger handelte. Reporter vor Ort beschrieben die Menge als Trump-Anhänger, viele trugen Zeichen der "QAnon"-Bewegung. Auch in Livestreams der Angreifer finden sich keine Hinweise auf linke Aktivisten. Die Strategie ist so durchsichtig, dass sogar bekannte rechtsradikale Aktivisten den Umdeutungsversuch in ihren Netzwerken als "lahm" bezeichnen.
Bekannte Ablenkungsstrategie
Zudem sind solche Ablenkungsmanöver seit Jahren bekannt: Bei den Buschbränden in den USA behaupteten Rechtsradikale beispielsweise, Antifa-Aktivisten seien die Brandstifter gewesen. Angebliche Antifa-Handbücher, Bekennerschreiben und Flugblätter, Fake-Fotos sowie gefälschte Konten in sozialen Netzwerken gehören seit Jahren zum Standardrepertoire von rechten Kampagnen zur Desinformation.
Präsident Trump förderte diese Falschbehauptungen durch unbelegte Aussagen sowie der Ankündigung, "die Antifa" als terroristische Vereinigung einzustufen, was rechtlich gar nicht möglich ist. Zudem existiert keine einheitliche Antifa-Organisation, die verboten werden könnte. Auch in Deutschland kursieren solche Mythen über "die Antifa" - nach dem "Sturm" auf den Bundestag bei einer Corona-Demonstration wurde im Nachhinein ebenfalls behauptet, der Angriff sei "unter falscher Flagge" ausgeführt worden, um die Proteste zu diskreditieren. Tatsächlich waren die Aktivisten durch Verschwörungslegenden und Falschmeldungen aus den eigenen Reihen aufgeputscht worden.
Digitale Propagandamaschine
Während des Sturms auf das Kapitol lief die digitale Propagandamaschine umgehend auf Hochtouren. Das Schlagwort "Antifa" ist bei Twitter in den Trends, obwohl es sich um einen rechtsextremen Umsturzversuch gehandelt hat, weil Trumps Anhängerschaft - auch in Deutschland - den Hashtag massenhaft twittert. Zudem schufen sich rechte Aktivisten eine eigene Infrastruktur, um Sperrungen nach Verstößen gegen Richtlinien zu entgehen. So wurden Plattformen als Alternativen zu YouTube oder Twitter aufgebaut.
Nachdem Facebook im Juli 2020 mehr als 350 Konten der "Proudboys" gesperrt hatte, wichen die rechtsradikalen Aktivisten auf alternative Plattformen wie Parler und Telegram aus. Parler ist ein bei Rechtsradikalen populäres Netzwerk, in dem rechtsradikale Propaganda quasi normal und akzeptiert ist. Antisemitische und rassistische Inhalte sowie Verschwörungslegenden finden sich dort massenhaft.
Gut möglich, dass Trump ebenfalls bald auf eine "alternative" Plattform ausweichen muss, denn sowohl Facebook als auch Twitter sperrten vorübergehend sein Konto nach zahlreichen Verstößen gegen die Richtlinien.
Bereits seit Monaten werden zahlreiche Tweets von Trump mit Warnhinweisen versehen oder sogar gelöscht. Lange hatten die sozialen Netzwerke argumentiert, sie wollten nicht in die politischen Debatten eingreifen. Doch die fatale Wirkung der gezielten Falschmeldungen aus dem Weißen Haus setzten die Internet-Giganten zunehmend unter Druck. Wenn Trump am 20. Januar aus dem Amt scheidet, dürften seine Konten Geschichte sein.
Doch die rechtsradikalen Desinformationskampagnen werden weitergehen, da sich Trump und seine Mitstreiter sowie Anhänger eine ganz eigene "alternative" Realität geschaffen haben. In dieser Welt werden Falschmeldungen, Hetze und auch Gewalt offenkundig als ein Instrument im politischen Kampf gesehen. Der Sturm auf das Kapitol könnte somit ein Fanal gewesen sein für eine radikale, militante Fundamentalopposition, die die Demokratie in den USA weiter attackieren wird.