WHO-Pandemievertrag Das neue Feindbild der Verschwörungsszene
Um auf eine neue Pandemie besser vorbereitet zu sein, verhandeln die 194 Mitgliedsstaaten der WHO seit mehr als zwei Jahren über einen Pandemievertrag. Der Verschwörungsszene ist er ein Dorn im Auge.
"Bekämpfe die Machtergreifung der WHO: Sag Nein zum 'Pandemievertrag'" - Unter diesem Motto läuft eine Petition in Deutschland, die bereits mehr als 500.000 Mal unterschrieben wurde. Der Entwurf des Pandemievertrags, der die freie Meinungsäußerung einschränke, die invasive Überwachung verstärke und "unsere geschätzten bürgerlichen Freiheiten" aushöhlen solle, könne in Kürze verabschiedet werden, heißt es weiter. Grund für die Aufregung ist das geplante Abkommen der Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das im Mai verabschiedet werden könnte.
Ziel dieses Pandemievertrags ist eine koordinierte Vorgehensweise der WHO-Mitgliedstaaten bei zukünftigen Pandemien. Nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach braucht es auf der globalen Ebene mehr koordinierte und gemeinsame Bestrebungen, um künftige Pandemien und andere Infektionskrankheiten zu bewältigen und einzudämmen. Unter anderem die EU und die G7-Staaten unterstützen den Plan eines globalen Pandemievertrags, der bereits Ende Mai 2021 - also während der Corona-Pandemie - von den 194 WHO-Mitgliedern gefasst wurde.
In verschwörungsideologischen Kreisen wird das geplante Abkommen jedoch von Anfang an als vermeintliche Machtergreifung der WHO interpretiert, um die Souveränität der Staaten auszuhebeln. Auch die AfD hat das Thema bereits für sich entdeckt und forderte kürzlich in einem Antrag an die Bundesregierung die "Ablehnung des WHO-Pandemievertrags sowie der überarbeiteten Internationalen Gesundheitsvorschriften".
"WHO bietet Rahmen für Verhandlungen"
Dabei ist an diesen Vorwürfen überhaupt nichts dran, sagen Experten. Zuallererst werde das Abkommen von Vertretern der WHO-Mitgliedsstaaten gemeinsam erarbeitet, sagt Andreas Wulf von der Nichtregierungsorganisation medico international. Die WHO biete vor allem den Rahmen für diese Verhandlungen, ähnlich wie die Vereinten Nationen. "Bei dem Pandemievertrag werden gemeinsame Rahmenrichtlinien verabredet, so wie es sie auch schon bei den internationalen Gesundheitsvorschriften gibt."
Die neueste Fassung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) wurde im Juni 2005 von der 58. Weltgesundheitsversammlung der WHO verabschiedet und ist seit dem 15. Juni 2007 völkerrechtlich verbindlich. Dabei ging es ebenfalls bereits hauptsächlich um einheitliche Vorgaben hinsichtlich der Überwachung und Kontrolle von "Ereignissen internationaler Tragweite" für die WHO-Mitgliedsstaaten. Das betrifft Ereignisse, die eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen können, wie beispielsweise regionale und globale Epidemien oder auch nukleare Unfälle.
WHO rief bislang sieben Mal eine Notlage aus
Die IGV sehen unter anderem vor, dass Ereignisse, die eine grenzüberschreitende Gefahr für die öffentliches Gesundheit darstellen können, innerhalb von 24 Stunden an die WHO gemeldet werden müssen. Diese kann dann ein Notfallkomitee mit externen Fachleuten einberufen, um über die Tragweite des Ereignisses und mögliche Maßnahmen zu diskutieren. Anschließend gibt das Gremium Empfehlungen ab, wie die Krise eingedämmt und bewältigt werden könnte - diese sind jedoch nicht bindend.
In den meisten Fällen kommt es jedoch gar nicht erst dazu. Insgesamt wurde nur sieben Mal eine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite ausgerufen - zuletzt am 23. Juli 2022 wegen des Ausbruchs der Affenpocken. Wegen des neuartigen Coronavirus hatte die WHO am 30. Januar 2020 die gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite ausgerufen.
"Wie wenig Macht die WHO diesbezüglich hat, konnten wir damals bereits sehen", sagt Wulf. Denn durch die Ausrufung der Notlage Ende Januar habe sich zum Beispiel in Deutschland noch nichts verändert. Für die breite Bevölkerung weitreichende Maßnahmen wie Kontakteinschränkungen oder eine Pflicht zum Tragen von Schutzmasken im öffentlichen Nahverkehr und beim Einkauf kamen erst Wochen später.
Vertrag gilt nur für Länder, die zustimmen
Da sich die IGV jedoch auf alle potentiellen Gefahren bezieht, wollen die WHO-Mitgliedsstaaten mit dem Pandemievertrag konkret das Vorgehen bei einer möglichen neuen Pandemie regeln. Das soll unter anderem auch Präventionsmaßnahmen beinhalten, damit es im besten Fall gar nicht erst zu einer Pandemie kommt.
Der Vertrag kommt erst zustande, wenn die Weltgesundheitsversammlung der WHO-Mitgliedsländer, die jährlich im Mai in Genf zusammen kommt, ihn im Konsens oder mehrheitlich beschließt. Die Vertreter von mindestens 40 Staaten müssen zustimmen. Doch damit ist er nicht auch direkt für alle Nationen verbindend. Als nächsten Schritt müssen die Länder den Vertrag ratifizieren, in Deutschland zum Beispiel durch eine Abstimmung im Bundestag. Anschließend müsste zumindest in Deutschland zudem ein Gesetz erlassen werden, um den internationalen Vertrag umsetzen zu können.
Der Pandemievertrag würde dann auch nur für die Länder gelten, die ihn entsprechend ratifiziert haben, sagt Pedro Villarreal von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und dem Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. "Das zeigt, dass die Souveränität bei den Staaten bleibt. Denn so findet eine souveräne Entscheidungsfindung statt, indem die Staaten selber ihre Bereitschaft äußern, sich vom Abkommen verpflichten zu lassen."
"Die WHO wird keine solchen Befugnisse erhalten"
Auch die Sorge, dass die WHO durch den Pandemievertrag plötzlich Schutzmaßnahmen wie Lockdowns oder eine Impfpflicht bestimmen könnte, hält Villarreal für unbegründet. "Es ist falsch, dass die WHO dann den Regierungen vorschreiben darf, welche Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung ergriffen werden müssen. Die WHO wird keine solchen Befugnisse erhalten." Sanktionen sind nicht vorgesehen, falls sich Staaten nicht an den Vertrag halten, so Villarreal.
Hinzu kommt laut Wulf, dass die WHO beispielsweise mit Blick auf die Corona-Pandemie eher zurückhaltend mit Forderungen nach bestimmten Maßnahmen wie Grenzschließungen gewesen ist, denn sie weiß um die massiven wirtschaftlichen Folgen solcher Abschottung in einer globalisierten Welt. Letzten Endes habe die WHO auch gar keine Durchsetzungskraft für bestimmte Maßnahmen. "Die WHO beschließt nicht, dass in Deutschland die Kneipen schließen und dass wir alle eine Maske tragen müssen. Die WHO gibt lediglich Empfehlungen ab, ob zum Beispiel das Tragen von Masken sinnvoll ist oder nicht." Was davon umgesetzt werde, entschieden die Staaten selbst.
Mit dem Pandemievertrag würde es vielmehr wie bei der IGV zumindest theoretisch möglich sein, dass ein Staat bei der Nichteinhaltung seiner Verpflichtungen von anderen Staaten ein Verstoß gegen das Völkerrecht vorgeworfen werden könne, sagt Villarreal. "Wenn ein Staat den Vertrag nicht einhält, dann kann ein anderer Staat entweder durch diplomatische Verhandlungen oder durch eine Klage versuchen, den Verstoß zu ahnden. Aber dafür gibt es viele Hindernisse."
Konfliktpotenzial beim Ausrufen einer Pandemie?
Ähnlich wie bei der IGV könnte es mit dem Pandemievertrag für die WHO auch möglich sein, eine Pandemie zumindest informell auszurufen. "Diese Ausrufung hätte jedoch keine rechtlichen Konsequenzen für die Staaten", sagt Villarreal. Allerdings würden Staaten solch eine Situation dann natürlich beobachten und gegebenenfalls reagieren. Ob das überhaupt Teil des Abkommens werde und falls ja, wie genau das aussehen würde, sei aber ohnehin noch nicht geklärt.
Villarreal sieht in dem Ausrufen einer Pandemie jedoch Konfliktpotenzial, aber aus anderen Gründen als in verschwörungsideologischen Kreisen. Denn die Einschätzung, ab wann es sich tatsächlich um eine Notlage handele, könne variieren. "Sobald die WHO eine Notlage ausruft, hat das Konsequenzen für den betroffenen Staat", so Villarreal. Denn andere Länder könnten beispielsweise als Vorsichtsmaßnahme den Handel mit dem betroffenen Land einstellen, was wirtschaftlich spürbare Konsequenzen mit sich bringe.
Dadurch sind laut Villarreal einige Staaten skeptisch bezüglich der Weitergabe von Informationen an die WHO, weil sie keinen Einfluss darauf haben, ob die WHO eine Notlage ausruft. "Obwohl die WHO den Staaten nicht vorschreiben kann, wie sie zu handeln haben, reagieren andere Staaten möglicherweise auf eine Art und Weise, die nicht im Interesse eines betroffenen Staates liegt. Und das ist die Sorge." So habe beispielsweise die Entdeckung der Omikron-Variante in Südafrika dazu geführt, dass andere Länder Reisebeschränkungen für Südafrika verhängten.
Abwehrreaktion bei multilateralen Organisationen
Insgesamt erklärt Wulf sich die vielen Verschwörungserzählungen rund um den Pandemievertrag und die WHO im Allgemeinen mit psychologischen Faktoren. "Ich glaube, das hat viel mit Angstabwehr und fehlenden Kenntnissen über multilaterale Organisationen wie der WHO zu tun." Ähnlich wie bei der EU gebe es auch mit Blick auf die WHO eine Art Abwehrreaktion. "In einigen Kreisen gibt es wegen der Komplexität der globalisierten Welt den ganz klaren Wunsch nach einem Rückzug ins Nationale."
Dabei gebe es in Deutschland zum Beispiel das Infektionsschutzgesetz, auf dessen Grundlage tatsächlich wesentliche Grundrechte eingeschränkt werden können. "Es gibt ein Gesetz, das - medizinisch begründet - eine enorme Einschränkungsmöglichkeit und Machtfülle beinhaltet. Und das wird dann meiner Ansicht nach von den Verschwörungsideologen auf die WHO projiziert."
Ob der Pandemievertrag überhaupt wie geplant im Mai beschlossen wird, ist derzeit noch unklar. Viele Punkte wie zum Beispiel die Verteilungsgerechtigkeit oder auch der Patentschutz von Impfstoffen sind noch umstritten.
In einer früheren Version hieß es, dass die WHO die gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite zuletzt am 30. Januar 2020 wegen des Coronavirus ausgerufen hatte. Allerdings hatte sie diese am 23. Juli 2022 wegen des Affenpocken-Ausbruchs zuletzt ausgerufen. Das haben wir korrigiert und bitten den Fehler zu entschuldigen.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen