Eine Reihe von Bomben in der Rüstungsfabrik "Basalt" in Tula, Russland (Archivbild: 2008)
Kontext

Russland Die Sanktionen wirken - und nutzen dennoch wenig

Stand: 22.04.2024 14:20 Uhr

Vor mehr als zwei Jahren verhängte die EU ihr erstes großes Sanktionspaket gegen Russland nach dessen Invasion in die Ukraine - zwölf weitere folgten. Dennoch wächst die russische Wirtschaft weiter. Wie kommt das?

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Wenn es nach dem Internationalen Währungsfonds (IWF) geht, wird Russlands Wirtschaft dieses Jahr stärker wachsen als zunächst erwartet. Denn der IWF korrigierte seine Prognose aus dem Januar in dieser Woche von 2,6 Prozent auf 3,2 Prozent nach oben. Und auch im kommenden Jahr erwartet der IWF nun statt einem Wachstum von 1,1 Prozent immerhin 1,8 Prozent. Zum Vergleich: Für Deutschlands Wirtschaft erwartet der IWF dieses Jahr ein Wachstum von 0,2 Prozent, kommendes Jahr 1,3 Prozent.

Angesichts der inzwischen 13 Sanktionspakete der EU gegen Russland dürften diese Zahlen in Brüssel für Ernüchterung sorgen. Das letzte Paket wurde im Februar verabschiedet, nach dem Tod von Alexej Nawalny im März wurden zudem noch weitere Personen und Organisationen in die Sanktionsliste mit aufgenommen. Wieso steht die russische Wirtschaft dennoch verhältnismäßig gut da?

Sanktionen werden umgangen

Aus Sicht von Experten hat das mehrere Gründe. Einer der wichtigsten ist, dass Russland die Importe inzwischen wieder annähernd auf Vorkriegsniveau steigern konnte. Denn auch wenn beispielsweise das Exportvolumen von EU-Produkten nach Russland stark zurückgegangen ist, hat Russland es insgesamt geschafft, die meisten Waren aus anderen Märkten zu beziehen. Die EU-Exporte sanken seit Beginn des Kriegs in der Ukraine auf 37 Prozent des Vorkriegsniveaus. Allerdings stiegen im selben Zeitraum die russischen Importe aus China stark an: Mehr als die Hälfte der in Russland eingeführten Güter stammt aus China - vor dem Krieg waren es noch gut 20 Prozent.

Nicht nur aus China stiegen die russischen Importe an: Die Türkei beispielsweise hat ihre Exporte nach Russland verdreifacht, Armenien sogar verzehnfacht. Nach Ansicht von Experten ist das in diesen Ländern ein klares Anzeichen dafür, dass die EU-Sanktionen so umgangen werden - vor allem bei sogenannten Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, also zum Beispiel elektrische Komponenten, die sowohl zivil als auch potentiell für militärische Anwendungen verwendet werden können.

Einer Untersuchung der französischen Hochschule IÉSEG School of Management zufolge stieg der Anteil von EU-Exporten sanktionierter Güter in "Kreml-freundliche" Staaten von Oktober 2022 bis September 2023 um mehr als 80 Prozent an, während im selben Zeitraum die EU-Exporte nach Russland um 95 Prozent zurückgingen.

Preise steigen durch Parallelimporte

"Wir haben eine sehr starke Evidenz, die darauf hindeutet, dass es zu Sanktionsumgehungen kommt, vor allem auch bei den Gütern, die für militärische Zwecke wichtig sind", sagt Feodora Teti, Stellvertretende Leiterin des ifo Zentrums für Außenwirtschaft. Ähnlich wie in der EU gebe es zwischen den Ländern der Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU) keine internen Grenzen, so dass auch wenig kontrolliert werde bezüglich möglicher Verstöße gegen die EU-Sanktionen. Allerdings gelinge es Russland zumindest bei den Gütern, die für militärische Zwecke wichtig sind, nicht, die fehlenden EU-Importe zu 100 Prozent zu ersetzen, so Teti.

Die Umgehung der Sanktionen durch Parallelimporte sorgt laut Teti zudem dafür, dass die Preise für diese Güter steigen. "Dadurch, dass direkte Exporte aus der EU nach Russland nicht mehr möglich sind, müssen die Exporteure einen längeren Weg gehen. Das verursacht aber auch höhere Kosten." Um wie viel genau die Preise gestiegen sind, ließe sich jedoch nur schwer nachvollziehen, vor allem, da dies auch von der Branche abhänge.

Nicht alle EU-Exporte sind auf der Sanktionsliste, sondern lediglich 32 Prozent. So kommt es, dass die EU bei medizinischen Gütern weiterhin der wichtigste Lieferant für Russland ist.

Preis für russische Energieexporte hat sich gefangen

Während die Handelssanktionen aus Sicht von Experten dafür sorgen, dass zumindest die direkten EU-Exporte nach Russland für die ausgewählten Güter nahezu komplett gestoppt wurden, sehen sie die Energiesanktionen weniger effektiv. Denn nach einem starken Einbruch der russischen Einnahmen für Gas- und Ölexporte hat sich der Preis für russische Energie inzwischen wieder gefangen. Indien und China sorgen russischen Angaben zufolge mittlerweile für die Abnahme von fast 90 Prozent der russischen Ölexporte. Auch auf dem umgekehrten Weg gibt es die Vermutung, dass zumindest ein Teil dieser Exporte den Weg in EU-Mitgliedsstaaten findet - durch den Kauf von Öl aus Indien.

"Zu Beginn der Energiesanktionen hatte Russland eine schlechte Verhandlungsbasis, da es auf einmal das viele Öl loswerden musste", sagt Vasily Astrov, leitender Wirtschaftswissenschaftler am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Das hätten vor allem Indien und China ausgenutzt. Inzwischen sei der Preis für russische Energieexporte jedoch wieder gestiegen, die Probleme für Russland damit weitgehend gelöst. Die EU-Mitgliedsstaaten konnten als Abnehmer ersetzt werden.

Katz-und-Maus-Spiel

Insgesamt ist es nach Ansicht von Astrov bei den Sanktionen eine Art Katz-und-Maus-Spiel. Kurz nach der Einführung einer Maßnahme gebe es meist durchaus einen Schock für Russland. "Mit der Zeit findet man dann jedoch andere Wege, um den Sanktionen auszuweichen oder sie zu umgehen."

Die EU und ihre Verbündeten wie die USA wissen das. So hat die EU beispielsweise neue Regeln zur Strafverfolgung für die Umgehung von Sanktionen eingeführt. Und auch die USA setzte vor einigen Monaten mehr als 250 Einzelpersonen und Unternehmen aus Ländern wie China, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten mit auf ihre Sanktionsliste.

Erste Erfolge von diesen Maßnahmen seien bereits zu sehen, so Astrov. "Durch den erhöhten Druck gab es zum Beispiel Zahlungsprobleme für russische Unternehmen bei chinesischen Banken, wenn es sich um Güter handelte, bei denen die Sanktionen umgangen werden sollten." Allerdings gebe es auch darauf bereits eine neue Ausweichstrategie, in dem die Zahlungsabwicklung ebenfalls über Drittländer gemacht werde.

Russische Wirtschaft profitiert von Rüstungsausgaben

Der Hauptgrund für die wachsende russische Wirtschaft ist aus Sicht der Experten jedoch ohnehin nicht auf eine vermeintlich erfolglose Sanktionspolitik der EU und ihrer Verbündeten zurückzuführen. Denn dadurch, dass Russland seine Politik vollkommen auf den Krieg ausgerichtet hat, profitiere auch die Wirtschaft davon. Ein Drittel seines Budgets steckt der Kreml inzwischen in den Verteidigungshaushalt, so dass einzelne Branchen wie der Rüstungssektor oder auch das Baugewerbe enorm wachsen.

"Durch diese Maßnahmen steigen auch die Löhne in Russland überdurchschnittlich", sagt Astrov. Denn durch die gute Bezahlung im Rüstungssektor und die insgesamt knappe Anzahl an Arbeitskräfte hätten auch die Unternehmen in anderen Branchen die Löhne erhöhen müssen, um attraktiv zu bleiben.

Auch wenn Russland durch die hohen Kosten des Krieges inzwischen ein Haushaltsdefizit aufweist, glaubt Astrov, dass die Regierung die Rüstungsausgaben noch einige Jahre auf dem Niveau halten kann: "Die russische Wirtschaft ist derzeit überhitzt. Aber einen wirklichen Crash würde ich nicht erwarten. Ich glaube eher, dass es zu einer graduellen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums kommen wird."

In der Bildunterschrift hieß es, es seien eine Reihe von Raketen in der Rüstungsfabrik zu sehen. Es handelt sich dabei jedoch um Bomben. Das haben wir korrigiert und bitten den Fehler zu entschuldigen.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Bayern 2 am 12. April 2024 um 17:00 Uhr in den Nachrichten.