Deutschland und Israel Was hat es mit der Staatsräson auf sich?
Von Politikern heißt es immer wieder, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson. Was das konkret bedeutet, bleibt dabei jedoch unklar. Denn eine offizielle Erklärung dazu gibt es nicht.
"Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober vergangenen Jahres, wenige Tage nach dem Angriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel. Damit bezog sich Scholz unter anderem auf die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den Begriff Staatsräson ebenfalls wählte, als sie im März 2008 vor dem israelischen Parlament eine Rede hielt. Aber was bedeutet das eigentlich konkret?
Nationale Interessen im Vordergrund
Der Begriff Staatsräson stammt aus der politischen Philosophie und wird meist auf den italienischen Philosophen Niccolò Machiavelli und seine 1513 verfasste Schrift "Il Principe" zurückgeführt, auch wenn er selbst den Begriff darin nicht nutzte. "Staatsräson bedeutet, dass ein Staat genau das tun muss, was für seinen Erfolg und sein Überleben maßgeblich ist", sagt Marietta Auer, Geschäftsführende Direktorin am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie. Die nationalen Interessen eines Staates haben demnach Vorrang vor Werten oder anderen Interessen einzelner Bevölkerungsgruppen.
Abhängig von der Historie eines Staates unterschieden sich diese Leitmotive, so Auer. "Was jeweils konkret als Staatsräson gelebt wird, ohne dass es so bezeichnet werden muss, ist für jeden Staat historisch gesehen unterschiedlich." Somit sei mit Blick auf die deutsche Vergangenheit auch zu erklären, warum Politiker wie Scholz oder Merkel die Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson bezeichnet haben - auch wenn es eigentlich ungewöhnlich sei, das Überleben eines anderen Staats zur eigenen Staatsräson zu machen.
So heißt es im Koalitionsvertrag der Ampelregierung: "Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson. Wir werden uns weiter für eine verhandelte Zweistaatenlösung auf der Grundlage der Grenzen von 1967 einsetzen. Die anhaltende Bedrohung des Staates Israel und den Terror gegen seine Bevölkerung verurteilen wir."
"Rechtlich bedeutungslos"
Welche Konsequenzen das konkret für die Politik bedeuten würde, sollte Israel zum Beispiel großflächig angegriffen werden, beantwortet die Bundesregierung auf Anfrage nicht. "Eine Staatsräson ist niemals etwas Genaues", sagt Auer. "Eine Staatsräson ist ein offener Begriff, quasi eine Generalklausel."
Rein rechtlich ist eine Staatsräson bedeutungslos, sagt Alexander Wentker, wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. "Aus juristischer Sicht ist unklar, was das für ein Konzept ist. Jedenfalls gibt es keine erkennbaren Folgen, die verfassungs- oder völkerrechtlich verankert sind."
Es gibt zwar neuerdings Bestrebungen, die Sicherheit Israels als Staatsräson auch in die Verfassung mit aufzunehmen, allerdings wäre das laut Wentker ein langwieriger Prozess. Denkbar wäre es demnach als sogenannte Staatszielbestimmung, ähnlich wie beispielsweise der Artikel 20a des Grundgesetzes. Dort heißt es, dass der Staat auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung schützt.
Völkerrecht erlaubt militärische Hilfe
Ohnehin kann Deutschland Israel unter bestimmten Voraussetzungen auch militärisch unterstützen - gedeckt durch das Völkerrecht. "Wenn zum Beispiel der Iran Israel mit einem völkerrechtswidrigen Vergeltungsschlag angreifen würde, dann dürfte Israel sich verteidigen", sagt Wentker. "Deutschland dürfte Israel dann bei dieser Ausübung des Selbstverteidigungsrechts unterstützen." Voraussetzung dafür sei eine entsprechende Anfrage Israels auf kollektive Selbstverteidigung. Auch ein Einsatz der Bundeswehr wäre dann völkerrechtlich zulässig.
Eine Pflicht zu helfen gibt es laut Wentker jedoch nicht. Daran ändere rechtlich gesehen auch die Staatsräson nichts. Sie könne jedoch als Leitlinie angesehen werden, an der sich die Politik bei ihren Entscheidungen orientiere. Allerdings gibt nicht nur das Völkerrecht, sondern auch das Grundgesetz einen klaren Rahmen, der für jeden Einzelfall berücksichtigt werden müsse - besonders für den Einsatz von Soldaten.
Dass Deutschland somit aufgrund der Staatsräson in irgendeiner Form dazu verpflichtet ist, Israel beispielsweise auch bei völkerrechtswidrigem Verhalten zu unterstützen, ist falsch. Über einen Auslandseinsatz der Bundeswehr, beispielsweise, müsste verfassungsrechtlich für den Einzelfall der Bundestag immer wieder neu entscheiden.
"Langfristige Strategie"
Auer sieht in der Betonung der Staatsräson durch deutsche Politiker daher vor allem ein rhetorisches Mittel, um die Unterstützung für Israel zu untermauern. "Es soll zeigen, dass es mehr ist als nur eine Zusage. Es ist etwas, womit Deutschland eine Strategie auf der Weltbühne verbindet, und zwar eine langfristige Strategie."
Weitere politische Leitlinien, die ebenfalls zur deutschen Staatsräson gezählt werden könnten, wie die Einhaltung von Menschenrechten, werden deutlich seltener öffentlichkeitswirksam mit Betonung auf die Staatsräson erwähnt. "Deutschland steht eigentlich immer auf der Seite, die das Völkerrecht verteidigt", sagt Auer. "Wenn Israel jetzt manifest völkerrechtswidrig handelt, wird sich Deutschland nicht auf die Staatsräson berufen, um das zu verteidigen."
Mehrere Elemente der Zusammenarbeit
Die Unterstützung Israels zeigt sich nicht nur durch den wiederholten Verweis auf die deutsche Staatsräson, auch politisch und militärisch gibt es schon seit Jahrzehnten eine enge Bindung. So gehörte Israel im vergangenen Jahr mit Rüstungsexporten im Wert von 326,5 Millionen Euro zu den Ländern mit den höchsten Einzelausfuhrgenehmigungswerten aus deutscher Sicht.
Auch in internationalen Organisationen gibt es laut Politikwissenschaftler Markus Kaim eine deutsche Leitlinie, die eigene Politik sowie das entsprechende Abstimmungsverhalten an den Interessen und der Sicherheit Israels zu orientieren. Dazu zählt demnach zum Beispiel, dass Deutschland sich im November 2012 bei einer Abstimmung der UN über eine Anerkennung Palästinas enthielt.
Als weitere Dimension nennt Kaim die Bemühungen der deutschen Außenpolitik, in der Region ein politisches Umfeld zu schaffen, das die Spannungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn abfedere und den arabisch-israelischen Konflikt einer dauerhaften Regelung zuführen soll. Dazu zählen Beobachter auch die finanzielle Unterstützung der Bundesregierung für palästinensische Gebiete, damit deren Bevölkerung den Friedensprozess unterstützt.
Angriffsfläche für andere Staaten
Die öffentliche Betonung der Staatsräson und der Unterstützung Israels macht Deutschland aus Sicht von Auer und Wentker zur Zielscheibe für Länder, die auf der palästinensischen Seite stehen. So hat Nicaragua Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen "Beihilfe zum Völkermord" verklagt und unter anderem den Stopp von Waffenexporten nach Israel gefordert. Zumindest dem Eilantrag hat der IGH jedoch nicht stattgegeben.
"Dadurch, dass Deutschland die Unterstützung Israels politisch so hoch hängt, fällt es besonders auf", sagt Wentker. "Es ist schon interessant, dass es eine Reihe von Staaten gibt, die eben nicht von Nicaragua verklagt worden sind, obwohl sie Israel ebenfalls unterstützen." Zwar spiele dabei unter anderem auch eine Rolle, dass Deutschland im Gegensatz zum Beispiel zu den USA dem IGH eine größere rechtliche Bedeutung zuteil werden lasse, indem es sich der Zuständigkeit des Gerichtshofs in größerem Umfang unterworfen habe. Doch ganz allein damit ließe sich das nicht erklären.
Auch Auer führt die Klage Nicaraguas vor allem darauf zurück, dass Deutschland die Sicherheit Israels zur Staatsräson erklärt hat. Deutschland hatte die Vorwürfe Nicaraguas zurückgewiesen mit der Begründung, dass die Bundesrepublik Waffen "nur auf der Grundlage einer sorgfältigen Prüfung, die weit über die Anforderungen des Völkerrechts hinausgeht", liefere.
Auch innenpolitisch keine direkten Auswirkungen
Auch innenpolitisch wird die Staatsräson in einigen Kreisen als vermeintliche Begründung herangeführt, warum in Deutschland bestimmte Demonstrationen oder Organisationen verboten würden. Allerdings hat auch hier die Staatsräson keinerlei rechtliche Konsequenzen. "Staatsräson ist kein Konzept, das für solche Urteile irgendwie rechtlich relevant ist", sagt Auer. "Zudem sind die Gerichtsentscheidungen zu diesen Fällen immer kontextabhängig und kommen zu ganz verschiedenen Ergebnissen."
Jedoch zeigt sich laut Wentker in einigen rechtlichen Regelungen, dass Deutschlands Vergangenheit und die daraus resultierende Unterstützung der jüdischen Bevölkerung durchaus eine Rolle spielt. So wurde beispielsweise im Artikel 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs mit aufgenommen, dass Antisemitismus als weiterer Beweggrund gilt, wenn es um die Strafzumessung geht. Hierbei wägt das Gericht die Umstände gegeneinander ab, die für oder gegen den Täter mit Blick auf das Strafmaß sprechen. Seit 2021 zählt Antisemitismus wie rassistische oder sonstige menschenverachtende Ziele oder Beweggründe als Grund für eine schärfere Strafe.
Auch bei der Einbürgerung von Ausländern wurden die Voraussetzungen mit Blick auf Antisemitismus vor kurzem verschärft. Unter anderem müssen Einbürgerungsbewerber sich künftig auch "zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft und ihre Folgen, insbesondere für den Schutz jüdischen Lebens, bekennen", wie das Bundesinnenministerium mitteilte.
Insgesamt ist nach Ansicht von Auer und Wentker die Staatsräson eine politische Leitlinie, an der sich die Bundesregierung orientiert. Sie ist jedoch weder bindend noch starr, sondern kann theoretisch beliebig mit neuen Inhalten gefüllt werden.