Corona-Maßnahmen aufgehoben Hat Dänemark "kapituliert"?
In Deutschland wird derzeit viel über die Aufhebung der Corona-Maßnahmen in Dänemark diskutiert. Geht das Land einen "mutigen Schritt" - oder hat man vor der Omikron-Variante einfach "kapituliert"?
Dänemark hat alle Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie aufgehoben. Während einige Politiker und Teile der Öffentlichkeit die dänische Linie gerne nachahmen würden, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, er begrüße die Lockerungen nicht. "Das ist Dänemark, das sind nicht wir", so Lauterbach. Dänemark habe eine höhere Impfquote, zudem begann die Omikron-Welle dort deutlich früher.
Einige Wissenschaftler in Deutschland pflichten dieser Einschätzung bei. Der Mathematiker Kristan Schneider von der Hochschule Mittweida, der das Infektionsgeschehen modelliert, sagte der "Bild" und "t-online" dazu, beim dänischen Vorgehen handle es sich um "eine Verzweiflungshandlung" und "eine Kapitulation" vor dem Infektionsgeschehen. "Dänemark wagt keinen mutigen Schritt, sondern wurde von dem Virus in die Knie gezwungen", so Schneider.
Logik wie in der DDR?
Auf Anfrage des ARD-faktenfinder bekräftigte Schneider seine Aussagen, die sich aus den dänischen Inzidenzen ergäben: "Es gibt einen 7-Tage Mittelwert von ca. 45.000", so Schneider. "Geht man davon aus, dass 40 bis 60 Prozent aller Infektionen nicht erkannt werden, sind wir mit der Dunkelziffer bei 75.000 Neuinfektionen pro Tag. Diese sind zwölf Tage infiziert. Dann ist man bei einer Zahl von 900.000 bis 1,35 Millionen aktiven Infektionen." Diese Zahlen seien unumstritten. Bei 5,8 Millionen Einwohnern sei dies ein Sechstel bis ein Fünftel der Bevölkerung. Es liege auf der Hand, dass "es zu systemischen Ausfällen käme", wenn "alle infizierten tatsächlich in Isolation müssten". Dänemark habe daher keine Wahl gehabt.
Da man nun weniger teste, würden bald auch die Zahlen sinken. Das heiße aber nicht, dass es kein Problem gäbe: "In Großbritannien, der Schweiz und den USA steigt die Zahl der hospitalisierten Kinder enorm an. In ein paar Wochen kann man evaluieren, wie vernünftig die Entscheidung von Dänemark war", so Schneider weiter. Und: "In der DDR löste man die Wohnungskrise, indem die Verteilungsstelle keine neuen Anträge auf Wohnungen mehr annahm. Dann hat das ZK behauptet, es gäbe kein Wohnungsproblem mehr, weil keine neuen Anträge kommen. Der gleichen Logik bedient sich Dänemark."
Dänische Forscher widersprechen
Dieser Darstellung widersprach der dänische Chemiker Kasper Planeta Kepp, der unter anderem zur Struktur und Mutationen des Spike-Proteins von Sars-Cov-2 publiziert hat. Er twittert seit Tagen über Interpretationen der dänischen Lage, die er als Desinformation bezeichnet.
Der Politikwissenschaftler und Regierungsberater Michael Bang Petersen hatte die dänische Entscheidung auf Twitter auf Englisch ausführlich erläutert. Darin beschreibt er, wieso die dänischen Fachleute ausgehend von der geringeren Krankheitslast auf den Intensivstationen mit Omikron eine weitgehende Entkopplung des Infektionsgeschehens und der Zahl der schweren Verläufe feststellten - in einer weitgehend geimpften Bevölkerung.
Keine gesetzliche Grundlage mehr
Auf Nachfrage erklärte Petersen dem ARD-faktenfinder, er verstehe, "warum die dänische Entscheidung international für Irritationen" sorge. "Wie können wir alles aufheben, während die Zahlen steigen?" Die Antwort sei jedoch recht simpel, wenn man sich die Daten genau anschaue: "Wir haben eine sehr gute Gesundheitsdatenbank und wir sehen, dass das Zusammentreffen von Omikron und einer weitgehend geimpften Bevölkerung die Lage einfach verändert hat. Wir haben hohe Fallzahlen, ja, aber wir haben einfach keine hohe Krankheitslast mehr."
Die dänischen Gesetze seien eindeutig, so Petersen: "Wenn es keine akute Bedrohung der Bevölkerung mehr gibt, dann darf es auch keine Maßnahmen mehr geben. Niemand sagt, dass es auf individueller Ebene, zum Beispiel für gefährdete Personen keine Gefahr mehr gibt. Aber wir geben die Verantwortung für deren Schutz zurück vom Staat auf die Bürgerinnen und Bürger, wie es das Gesetz vorschreibt. Und das sorgt auch dafür, dass das Vertrauen in die dänischen Behörden und den Staat so groß ist."
Offizielle Zahlen stützen dänischen Kurs
Das dänische "Statens Serum Institut" (SSI), das mit dem Robert-Koch-Institut (RKI) vergleichbar ist, beruft sich zudem darauf, dass die Übersterblichkeit in Dänemark sinke. In der fünften Kalenderwoche sei diese erneut in allen Altersgruppen zurückgegangen, obwohl unter den Toten aufgrund der hohen Inzidenz viele Menschen mit positivem Testergebnis seien. Die Übersterblichkeit lag während der Delta-Welle noch deutlich höher als in den Vorjahren - doch mittlerweile gehe der Wert zurück und nähre sich dem jährlichen Durchschnitt an, meldete das SSI.
Auch in den Krankenhäusern nehme der Druck stetig ab: Mindestens ein Drittel der im Krankenhaus positiv auf Corona Getesteten seien Zufallsbefunde, die wegen anderer Erkrankungen behandelt würden. Die Zahl der Menschen, die wegen Covid-19 ins Krankenhaus müssten, sei dagegen weiter gefallen, teilte das SSI Ende Januar mit, genauso die Zahl der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Eine Untersuchung hatte außerdem ergeben, dass mutmaßlich jeder dritte Erwachsene in Dänemark in der Zeit vom 1. November 2021 bis Ende Januar 2022 mit Corona infiziert war.
Zahlen im Großraum Kopenhagen sinken
Unterdessen sinkt die Zahl der Neuinfektionen im Großraum Kopenhagen kontinuierlich. Grund seien Impfungen und eine wachsende Immunität in der Bevölkerung nach einer Infektion, sagt Henrik Ullum, Direktor des SSI. Auch an den Schulen entspanne sich die Lage, berichtet der Dänische Rundfunk. Der Großraum Kopenhagen hatte lange die höchsten Inzidenzwerte, mittlerweile liegen ländliche Gebiete an der Spitze.
Ullum will noch nicht von einer generellen Immunität sprechen. Auch andere Fachleute sind noch zurückhaltend: Rasmus Kristoffer Pedersen von der Universität Roskilde meint, es sei entscheidend, wie viele Ältere sich noch infizierten, bevor sich das Virus nicht mehr schnell verbreiten könne.
Übertragbarkeit auf Deutschland bleibt umstritten
In der ARD-Talkshow "Hart aber Fair" gingen die Meinungen zum dänischen Kurs ebenfalls auseinander: Während Ex-Familienministerin Kristina Schröder und CSU-Generalsekretär Markus Blume die baldige Rücknahme von Maßnahmen forderten, zeigten sich Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und der Lungenfacharzt Cihan Celik skeptischer.
Deutschland habe über drei Millionen ältere Ungeimpfte, die ein hohes Risiko trügen. Somit könne die schlechte Impfquote speziell in diesen Gruppen die Krankenhäuser schnell wieder überlasten, wenn Omikron dort voll ankomme. Für Göring-Eckardt führt der einzige Weg zu Freiheit wie in Dänemark daher über eine allgemeine Impfpflicht.
Keine generelle Entwarnung
Basis für die Aufhebung der Maßnahmen in Dänemark ist also keine generelle Entwarnung, sondern die Einschätzung von Fachleuten, Corona sei keine Bedrohung mehr für die gesamte Gesellschaft, daher müssten die Einschränkungen den Gesetzen folgend aufgehoben werden. Neben einer höheren Impfquote hat das Land wohl auch mehr Genesene sowie eine sehr gute Datenbasis. Die dänischen Experten sehen ihren Schritt daher keinesfalls als "Kapitulation", sondern als logischen und demokratisch notwendigen Schritt.