Reaktionen auf EU-Gipfel Nach der Einigung ist vor der Einigung
Am frühen Morgen kam endlich die Einigung beim Brüsseler EU-Gipfel - aber das heißt nicht, dass die Milliarden jetzt fließen können. Auch das EU-Parlament muss zustimmen. Und von dort kommen Änderungswünsche.
Nach tagelangen Verhandlungen wurde beim EU-Gipfel in Brüssel am frühen Morgen eine Einigung erzielt. Damit ist das Corona-Hilfspaket und der nächste EU-Haushalt aber noch nicht beschlossene Sache: Bevor die Gelder aus dem geplanten Corona-Aufbaufonds oder aus der ab 2021 beginnenden neuen siebenjährigen EU-Finanzvorausschau fließen können, muss neben den nationalen Parlamenten auch das EU-Parlament zustimmen. Und die Verhandlungsgruppe des Parlaments fordert jetzt Änderungen.
"Das Parlament kann nicht den neuen Rekord-Niedrigwert für den Haushaltsrahmen akzeptieren, weil dieser die langfristigen Ziele und die strategische Autonomie der EU gefährdet", heißt es. Der EU-Gipfel hatte einen Haushaltsrahmen von 1,074 Billionen Euro bis 2027 beschlossen. "Das Parlament ist zudem energisch dagegen, den Mechanismus zu verwässern, nach dem Zahlungen an Mitgliedstaaten reduziert und gestrichen werden können, wenn diese Rechtsstaatsprinzipien missachten." Darüber wolle man verhandeln.
Auch einzelne Europa-Abgeordnete reagierten verhalten auf die erzielte Einigung.
Debatte um Rechtsstaatlichkeit
Die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley, warf den EU-Staats- und Regierungschefs zu große Nachgiebigkeit gegenüber Staaten wie Ungarn und Polen vor. Man sei eingeknickt und das sehr früh, sagte die SPD-Politikerin dem Sender "Welt". Sie bezog sich damit auf den Kompromiss, der bei der Koppelung von EU-Geldern an Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern erzielt wurde. Zuvor hatten sich Polen und Ungarn strikt gegen einen solchen Rechtsstaatsmechanismus gewehrt, zumal gegen beide Staaten Verfahren wegen Verletzung von EU-Grundwerten laufen.
Im Kompromiss heißt es nun, dass der Europäische Rat die Bedeutung des Schutzes der finanziellen Interessen der EU und des Respekts der Rechtsstaatlichkeit unterstreiche. Wie diese Formel konkret ausgelegt wird, wurde direkt nach dem Gipfel sehr unterschiedlich interpretiert. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban wertete dies in Brüssel als Erfolg für sich: "Jeder Versuch, der darauf abzielte, zwei wichtige Fragen - die der EU-Gelder und die der Rechtsstaatlichkeit - miteinander zu verbinden, wurde erfolgreich zurückgewiesen."
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete und Europapolitikerin Franziska Brantner sprach davon, dass eine Entscheidung in dem Streit lediglich vertagt worden sei. Bei einem weiteren EU-Gipfel müsste diese dann erneut per Einstimmigkeit getroffen werden. "Und dann wird keine Haushaltsentscheidung mit dranhängen und somit das Druckmittel auf Polen und Ungarn fehlen."
Kritik an Rabatten für die "Sparsamen"
Auch die auf den Druck der selbsternannten "Sparsamen" - der Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland - vereinbarten Rabatte auf die EU-Beitragszahlungen der Länder gehen einigen zu weit. "Der Gipfel war eine große Enttäuschung für diejenigen, die hofften, Solidarität sei ein gemeinsames Gut in der EU", erklärte der Linken- Fraktionschef im Europaparlament Martin Schirdewan. "Die politischen Chaostage in Brüssel bestärken jedes Mitgliedsland darin, künftig seine Egoismen auf Kosten der Gemeinschaft durchzusetzen."
Ähnlich äußerte sich der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. "Der Preis des Deals ist hoch", monierte er. "Jeder Mitgliedstaat hat ein 'Zuckerl' für die Heimfahrt in die Hauptstädte bekommen, aber wer das Ganze als großen Wurf verkauft, lügt sich in die eigene Tasche." Ferber sprach von einem "Sammelsurium von nationalen Wünschen" anstelle eines europäischen Pakets.
Wohin fließen die Gelder?
Der CSU-Politiker machte außerdem klar, dass das Europaparlament noch prüfen will, welche Bereiche von dem Finanzpaket profitieren. Das Parlament werde darauf pochen, dass Gelder nicht zum Schaden von Zukunftsprojekten nur in traditionelle Bereiche wie die Landwirtschaft fließen, kündigte er an.
Der EU-Parlamentarier Sven Giegold (Grüne) bemängelte, dass beim gerechten Übergang in den Klimaschutz und einer gemeinsamen europäischen Gesundheitspolitik gekürzt wurde.
Opposition im Bundestag ist enttäuscht
Während die Koalitionsfraktion im Bundestag sich erleichtert über die Einigung beim EU-Gipfel zeigte, war die Opposition enttäuscht.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch beklagte eine soziale Schieflage. Zur Finanzierung hätten Europas "Superreiche" herangezogen werden sollen, sagte er der "Welt". "Europa wird ungerechter und ungleicher, wenn Europas Multimillionäre und Milliardäre keinen relevanten Beitrag zur Finanzierung der Hilfsfonds leisten müssen."
Die Grünen warnten ebenfalls vor Kürzungen an den falschen Stellen. "Mitten in der Corona-Krise weniger Geld für Gesundheit, Forschung und auch Klimaschutz vorzusehen, ist nicht sparsam, sondern dumm", sagte die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt der Funke-Mediengruppe. Mit Blick auf die Debatte über die Koppelung von EU-Zahlungen an Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit sprach sie von "indiskutablen Erpressungsversuchen" Ungarns. Das Ergebnis sei eine "Bürde für die Zukunft Europas."
Spitzenpolitiker der AfD kritisierten es als "Tabubruch", dass die EU nun für das Corona-Krisenpaket gemeinsame Anleihen in großem Umfang aufnehme. "Angela Merkel vollendet die Schulden- und Transferunion auf Kosten deutscher Steuerzahler und treibt so unser Land in den Ruin", erklärte AfD-Chef Jörg Meuthen. Die FDP übte Kritik an der Verhandlungsführung der Bundesregierung. Die als die "Sparsamen Fünf" bekannten Länder Österreich, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Finnland hätten auf dem Gipfel "die Rolle gespielt, die eigentlich Deutschland hätte einnehmen müssen", sagte der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff. "Europa muss den 'Sparsamen Fünf' dankbar sein."
Erfolg - mit Einschränkungen
Vertreter der Koalitionsparteien CDU, SPD und CSU begrüßten den Brüsseler Kompromiss.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sagte, mit der Einigung in Brüssel sei die Ampel für den Green-Deal in der EU auf Grün gesprungen. Zudem werde das EU-Konjunkturpaket vielen Menschen helfen, die Krise besser zu überstehen. Zu den Zukunftsinvestitionen sagte Altmaier, er sei froh, dass ein Drittel der Ausgaben in den Klimaschutz investiert werden sollen. Das reiche nicht, sei aber ein Anfang, erklärte er. Bei Innovationen gehe es darum, dass sich Europa und die deutsche Wirtschaft "nicht abhängen lassen".
Wirtschaftsvertreter reagierten dementsprechend mit Erleichterung auf die Einigung der EU. Sie sei "ein wichtiges Signal für die deutsche Wirtschaft", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer. "Die Stärkung des Binnenmarktes und die wirtschaftliche Erholung in den Mitgliedsstaaten sind für die deutsche Wirtschaft zentrale Voraussetzungen dafür, die Krise zu überwinden." Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Joachim Lang, erklärte: "Mit dem Kompromiss zum größten Investitionspaket in ihrer Geschichte erweist sich die EU in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg als handlungsfähig und solidarisch." Jetzt müsse es darum gehen, dass die Regierungen ihre Pläne für den nationalen Wiederaufbau zügig vorlegten.
Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, bezeichnete die Einigung und den finanziellen Rahmen der Hilfen in einem Interview auf tagesschau24 als "ein Wort der Solidarität, das es so noch nie gab", räumte aber ein, es sei schade, dass es nur Reformpläne gebe und keine konkreten Projekte.
Wirkliche Kontrolle über die Verwendung der Gelder in den Mitgliedsstaaten habe man nicht, diese Verantwortung liege nun bei den Empfängerländern. Zum Teil sei an falscher Stelle gespart worden, etwa bei Gesundheit, Forschung sowie bei Flüchtlings- und Außenpolitik. Einige Länder seien für ihre Egoismen belohnt worden. Trotzdem sei die bei der Einigung aufgebrachte Solidarität ein "Kitt für die EU in diesen Zeiten".
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich nach Abschluss der Verhandlungen zufrieden gezeigt. "Wir haben einen guten Abschluss gefunden, darüber bin ich sehr froh." Es sei nicht einfach gewesen. Für sie zähle aber, "dass wir uns am Schluss zusammengerauft haben", so Merkel. Neue Verhältnisse erforderten auch außergewöhnliche neue Methoden. Sie sei "sehr erleichtert", dass Europa nach schwierigen Verhandlungen gezeigt habe, dass es "doch gemeinsam handeln kann", sagte die Kanzlerin. Das erfülle sie mit Hoffnung und Mut.
Brüsseler Marathon-Gipfel
Nach einem der längsten EU-Gipfel der Geschichte hatten sich die 27 Staats- und Regierungschefs in den frühen Morgenstunden in Brüssel auf das größte Finanz- und Rettungspaket in der EU-Geschichte geeinigt: 750 Milliarden Euro umfasst ein Konjunktur- und Investitionsprogramm gegen die Folgen der Pandemie. Der Anteil der Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen, wurde auf Druck einer Gruppe von Ländern um die Niederlande und Österreich von 500 auf 390 Milliarden Euro gesenkt. Weitere 360 Milliarden Euro stehen als Kredite zur Verfügung.
Neben der Corona-Hilfe einigten sich die Verhandlungsteilnehmer auch auf den EU-Haushaltsrahmen bis 2027. Insgesamt 1074 Milliarden Euro sind dafür veranschlagt. Mit einem Gesamtumfang von 1,8 Billionen Euro verabschiedete die EU das größte Finanzpaket der Geschichte.
Nächste Woche sollen die Verhandlungen mit dem Europaparlament über das Rekord-Paket beginnen. Das kündigte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen an. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte bereits "sehr schwierige Diskussionen" voraus.