Ergebnisse des EU-Gipfels "Pandoras Büchse ist jetzt offen"
Die Brüsseler Ergebnisse eröffnen einen völlig neuen Weg in der EU-Haushaltspolitik. Viele Staaten haben etwas erreicht - doch EU-Experte Becker weist im tagesschau.de-Interview auch auf offene Fragen hin.
tagesschau.de: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb heute Morgen auf Twitter, dass das Ergebnis dieser viertägigen Verhandlung "historisch" sei. Hat er recht?
Peter Becker: Zumindest ist die Dauer und die Härte historisch, mit der dort diskutiert wurde. Ob es die Ergebnisse tatsächlich sind, da würde ich noch ein Fragezeichen setzen. Das muss man noch abwarten. Das war jetzt nur die erste Halbzeit. Die zweite kommt noch, wenn die Beschlüsse in Gesetze gegossen werden und in den nationalen Parlamenten umzusetzen sind. Hier müssen Bundestag und Bundesrat noch zustimmen.
Es ging ja um zwei große Themen. Das eine ist der ganz normale EU-Haushalt, der alle sieben Jahre festgelegt wird. Das zweite Paket ist dieser befristete Sonderhaushalt beziehungsweise Konjunkturhaushalt von 750 Milliarden Euro, um von der Corona-Pandemie besonders belastete EU-Mitgliedstaaten zu unterstützen. Das ist der sogenannte Wiederaufbaufonds, der auf vier Jahre ausgelegt ist.
tagesschau.de: Wo kommen diese 750 Milliarden Euro eigentlich her?
Becker: Das ist das Besondere an diesem Wiederaufbaufonds, dass die EU sich diesen Betrag an den Kapitalmärkten leihen kann. Sie darf sich also in dieser Höhe verschulden.
tagesschau.de: Galt es bislang nicht als absolutes No-Go, dass die EU Schulden machen darf?
Becker: In den Verträgen der Europäischen Union ist verankert, dass ihre Einnahmen und Ausgaben immer gleich bleiben müssen. Damit ist eigentlich eine Verschuldung ausgeschlossen. In den vergangenen Jahren hat die EU dieses Prinzip zwar auch hin und wieder umgangen, jedoch nur in sehr kleinem Rahmen. 750 Milliarden Euro sind da schon eine ganz andere Hausnummer. Das ist komplett neu.
"Das Risiko ist überschaubar"
tagesschau.de: Birgt das nicht für die einzelnen Mitgliedsstaaten ein sehr großes Risiko?
Becker: Das ist tatsächlich überschaubar. Anders als etwa bei den ebenfalls diskutierten Corona-Bonds gibt es hier keine gesamtschuldnerische Haftung. Es ist also nicht so, dass - im absoluten Extremfall einer Staateninsolvenz - ein Mitgliedstaat den Ausfall komplett tragen muss. Jetzt haftet die EU. Und jedes Mitgliedsland trägt nur das Risiko bis zu der Höhe, mit der es am EU-Haushalt beteiligt ist. Das bedeutet etwa für Deutschland einen Anteil von 25 Prozent. Die Europäische Union nimmt die Schulden auf und nicht das einzelne Mitgliedsland.
Das war noch in der Eurokrise anders. Da hat Deutschland einen Kredit aufgenommen und stellte es dem europäischen Stabilitätsmechanismus zur Verfügung, der es dann verteilt hat. Jetzt übernimmt das alles die EU. Das ist eine sehr gute Gemeinschaftslösung.
tagesschau.de: Halten Sie die Summe für ausreichend, um von der Corona-Pandemie besonders belastete EU-Staaten zu unterstützen?
Becker: Ja, was heißt ausreichend? Natürlich haben Spanien, Portugal und vor allem Italien sich mehr Geld aus diesem Topf erhofft, die sie als Zuschüsse bekommen, also nicht hätten zurückzahlen müssen. Da gibt es vielleicht gewisse Enttäuschungen. Aber man muss auch sagen, dass die Erwartungen da auch ein wenig übertrieben waren. Italien bekommt etwa 80 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre als Zuschuss. Die muss Italien nun erstmal sinnvoll einsetzen. Das war auch die Argumentation der "Sparsamen Fünf".
Das ist auch richtig, wenn Sie mal sehen, dass es ja schon seit jeher Förderungen strukturschwacher Regionen gibt. Seit über 60 Jahren wird etwa mit dem Strukturfonds der italienische Mezzogiorno gefördert, und es braucht die Mittel immer noch. Da kann man schon fragen, was die Italiener in den letzten 60 Jahren mit dem Geld gemacht haben. Die Befürchtung der "Sparsamen Fünf" war jetzt, dass auch das neue Geld einfach so versickert.
(Anmerkung der Redaktion: Die selbsterklärten "sparsamen" Länder sind die Niederlande, Österreich, Finnland, Schweden und Dänemark. Ursprünglich nannte man sich die "Sparsamen Vier", dann kam noch Finnland dazu).
tagesschau.de: An welche Bedingungen wollten die "Sparsamen Fünf" die Auszahlung der Gelder knüpfen?
Becker: Die Niederländer haben auf bestimmte Bedingungen bestanden, damit das Geld nicht einfach in die nationalen Haushalte fließt. Es sollen tatsächlich nur sinnvolle Projekte gefördert werden. Die Mitgliedsstaaten sollen dafür bis Jahresende sogenannte Resilienz-Pläne aufstellen, also Pläne, die die Mitgliedsstaaten krisenfester machen. Die Gelder werden daraufhin in mehreren Tranchen bewilligt.
Auf die Initiative der Niederländer ist in das Verfahren eine sogenannte Notfallregelung eingebaut worden. Danach wird die zweite Tranche erst freigegeben, wenn der Mitgliedstaat gewisse "Milestones", also Zwischenziele, mit seinem Projekt erreicht hat. Der Europäische Rat, also die einzelnen Staats- und Regierungschefs, erhalten damit eine Aufsichtsverpflichtung.
Das ist schon eine starke Symbolik, denn die Entscheidungsautonomie der Empfängerländer wird schon deutlich eingeschränkt, der Einfluss der Mitgliedsstaaten bei der Verwendung der Gelder wird gestärkt.
"Es gibt eigentlich nur Gewinner"
tagesschau.de: Wer ist aus Ihrer Sicht der große Gewinner beziehungsweise Verlierer?
Becker: Das kann man schlecht sagen. Irgendwie sind es alles Gewinner, denn alle haben etwas bekommen. Deshalb haben die Verhandlungen wohl auch so lange gedauert. Die Südeuropäer und auch die Osteuropäer haben sehr viel Geld zugesprochen bekommen. Aber selbst die Deutschen haben Sonderzahlungen für ihre Landwirtschaft ausgehandelt.
Wenn man aber einen Kopf bei den Verhandlern hervorheben will, dann wäre das wohl der Niederländer Mark Rutte als Sprecher der "Sparsamen Fünf", der mit seinen Bedenken deutliche Akzente gesetzt hat.
"Es ist ein Paradigmenwechsel"
tagesschau.de: Sind die "Sparsamen Fünf" tatsächlich auch Gewinner, wenn die EU sich nun so hoch verschulden darf?
Becker: Die Möglichkeit der Verschuldung ist zwar in der Tat ein Paradigmenwechsel, aber sie ist immerhin befristet auf vier Jahre und beschränkt auf das 750-Milliarden-Euro-Paket. Allerdings ist Pandoras Büchse nun auf. Es ist eine neue Richtung, die vielleicht bei späteren Krisen noch stärker genutzt wird.
Das Gespräch führte Iris Marx, tagesschau.de.