Ein Mann fährt mit dem Fahrrad an einem Wohnhaus vorbei, das durch russischen Beschuss in Slowjansk schwer beschädigt wurde.  (Archivbild: Oktober 2022)
reportage

Kriegsalltag in der Ukraine Das Bedürfnis, die Gefahr zu ignorieren

Stand: 17.05.2023 16:34 Uhr

In frontnahen Städten wie Slowjansk gehören russische Raketenangriffe zum Alltag. Doch viele Ukrainer haben die Angst vor diesen verloren und begeben sich nicht immer in Schutzräume. Ihre Angst gilt einem anderen Szenario

Die Dörfer und Städte nahe der Front sind ab 21 Uhr stockfinster und menschenleer. Es herrscht Ausgangssperre. In den Straßen von Slowjansk patrouilliert nur Militär.

Die russische Artillerie feuert ihre Grad-Raketen meist ungezielt ab, manchmal trifft es einen Wohnblock, manchmal ein brach liegendes Feld. In dieser Nacht werden sieben Einschläge gezählt, vier in Slowjansk, drei im benachbarten Kramatorsk.

Explosion in der Nacht

Trotz der Angriffe beleben sich am nächsten Morgen wieder die Straßen, Geschäfte öffnen. Über den großen Platz vor dem zentralen Verwaltungsgebäude eilt Irina, eine Frau Mitte 20. Sie sagt, sie habe wieder mal kein Auge zugetan in der zurückliegenden Nacht: "Ich wurde von einer gewaltigen Explosion geweckt. Ich lag auf dem Sofa und die Balkontür flog auf, alles flog auf: Schranktüren, Schubläden, der Gips rieselte von den Wänden."

Und während sie redet, heulen erneut die Sirenen in Slowjansk. "Siehst Du", sagt Irene, "jetzt geht das schon wieder los". Dann muss sie weiter, um, wie sie mit entschuldigendem Lächeln erklärt, nicht zu spät zur Arbeit zu kommen.

Drei Männer vor einem zerstörten Gebäude in Slowjansk (Aufnahme: 17.04.2023)

Zerstörung gehört zum Alltag der Menschen in Slowjansk - auch daran haben sie sich, so gut es eben geht, gewöhnt.

Es kommt, wie es kommt

Fast täglich heulen Sirenen in den frontnahen Städten. Diejenigen, die noch hier sind, sollten dann umgehend Schutzräume aufsuchen. Aber das macht niemand mehr. Nach 14 Kriegsmonaten scheint eine fatalistische Gleichgültigkeit den Alltag zu prägen. Es kommt, wie es kommt.

Und wer will schon 16 von 24 Stunden im Keller verbringen? Das Bedürfnis, die ständige Gefahr zu ignorieren und einer scheinbaren Geschäftigkeit nach zu gehen, scheint größer zu sein als die Angst.

Die Angst, den Krieg zu verlieren

Es ist ohnehin eine seltsame Sache mit der Angst in der Ukraine. Niemand fürchtet hier die Atombombe. Die Menschen im Kriegsgebiet sind stattdessen mit einer brutalen, konventionellen Kriegsführung konfrontiert, mit Bomben, Raketen, Drohnen, Granaten.

Was sie Tag und Nacht ängstigt, ist nicht die theoretische Möglichkeit der nuklearen Vernichtung. Es ist der Gedanke, irgendwann nicht mehr genug Waffen und Soldaten zu haben, um den russischen Angriffen zu widerstehen.

"Unsere Politiker sagen uns immer wieder, dass wir die Front noch lange halten können. Aber ich bin mir da nicht so sicher", meint Marianna, eine Ärztin aus Lwiw, die im Donbass verwundete Soldaten versorgt. "Wir haben nicht genug Leute. Wir haben 43 Millionen Einwohner, Russland 143 Millionen. Für uns ist jeder Soldat wichtig. Für Putin nicht."

Ein Fanal - schon 2014

Slowjansk war mal eine sowjetisch geprägte Provinzstadt, viel Plattenbau, wenig Flair, abgesehen von ein paar salzhaltigen Heilquellen hatte sie nie viel zu bieten. 2014 allerdings war Slowjansk kurz in den Weltnachrichten. Damals brachten Separatisten unter Führung des russischen Agenten Igor Girkin handstreichartig die ganze Stadt unter ihre Kontrolle.

Girkin erklärte sich zum Generalissimo, rief die Volksrepublik Donezk aus und errichtete ein kurzes brutales Terrorregime in Slowjansk. Die Separatisten trugen Sturmhauben wie die grünen Männer zuvor auf der Krim. Und wie zuvor auf der Krim erklärte Moskau auch diesmal: Man habe absolut nichts mit dem Ganzen zu tun. Dabei war es schon damals das Fanal für den Krieg in der Ost-Ukraine. Wenige Monate später wurde die Stadt dann von ukrainischen Einheiten wieder befreit.

Treffer nach dem Zufallsprinzip

Am späten Vormittag fauchen mehrere Raketen über den Himmel und schlagen irgendwo im Hinterland ein. Bei solchen Angriffen herrscht das Zufallsprinzip: Der eine bleibt verschont, den anderen trifft es, das gilt für Menschen wie Orte.

Lyman, nur wenige Kilometer entfernt, traf es schon kurz nach Kriegsbeginn. Die Stadt wurde im Frühjahr 2022 von russischen Truppen besetzt und im Herbst von ukrainische Einheiten wieder frei gekämpft.

Von den ehemals 21.000 Einwohnern sind nur ein paar hundert geblieben. "Hier, das war mal mein Haus", sagt Tanja, eine Frau Ende 50. Die Betonreste ihres Hauses werden nur noch von verbogenen Eisenträgern zusammen gehalten. Nicht nur ihr Haus, die ganze Stadt ist in weiten Teilen zertrümmert.

Lyman ist die nächst gelegene Stadt vor dem Ballungsraum Slowjansk - Kramatorsk. Im Fall einer ukrainischen Gegenoffensive wäre sie strategisch bedeutsam für Angriffe auf den russisch besetzten Norden des Donbass.

Wie stabil bleiben unter täglichem Beschuss?

Der Krieg ist ständig in Hörweite. Seit ihrem Rückzug schießen die russischen Truppen fast täglich auf das, was noch übrig ist von Lyman: Die Einschläge hinterlassen tiefe Granattrichter auf  Straßen und in Hinterhöfen, auf Kinderspielplätzen und in der Psyche.

Tanja sagt, ihre Tochter sei in letzter Zeit etwas eigenartig geworden, lache, wenn sie eigentlich weinen wolle, weine, wenn andere lachen. "Seit einem Jahr wohnen wir im Keller", sagt Tanja, "das ist der einzig Raum, der uns geblieben ist. Hier leben nur noch Gestörte. Ich glaub nicht, dass es hier noch jemanden gibt, der normal geblieben ist."